Professor Dr. Norbert Müller, Sportwissenschaftler an der TU Kaiserslautern, hat zusammen mit der Ethikerin Prof. Dr. Karen Joisten zum Rücktritt von Papst Benedikt XVI. eine Analyse seiner wichtigsten Reden mit Bezug zum Sport erstellt.
Beide Wissenschaftler arbeiten seit langem auf dem Gebiet von Sport und Ethik.
Die Analyse zeigt, dass Benedikts Aussagen zum Sport weit gewichtiger sind als sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Aber auch hier blieb der Papst seiner Linie treu: Körper und Geist müssen gleichermaßen gebildet werden, nur so können die Sporttreibenden, ob Spitzen- oder Breitensportler, ihre persönliche Erfüllung erreichen. Der Beitrag erschien dem Vatikan offensichtlich so lesenswert, dass er auf dessen Homepage gestellt wurde.
Homepage Vatikan:
http://www.laici.va/content/laici/en/media/notizie/the-alliance-between-sport-and-christianity.html
Deutsche Fassung:
Sport und Christentum verbünden sich – Ein Sieg im Verborgenen für Papst Benedikt XVI.
Die Rücktrittsankündigung des Papstes kam plötzlich und unerwartet, die Presse reagierte umgehend. In den Reaktionen ging es weniger um die Leistungen von Papst Benedikt XVI., als vielmehr um den Rücktritt selbst, diesen ungeheuren Akt, den es seit Jahrhunderten nicht gegeben hat. Wie ist er zu bewerten? Als eine Entzauberung des Amtes? Eine "kopernikanische Wende"? Eine "moderne Managemententscheidung"? Der "revolutionärste Schritt, den er je getan hat"?
Unabhängig davon, wie dieser Schritt bewertet wird, vergessen und verdrängen sollte man darüber nicht die Diskussion über seine Leistungen, über das, was gesagt und getan wurde – oder eben auch nicht. In sportgeschichtlicher und sportphilosophischer Perspektive war und ist sein geistiges Wirken überaus beachtlich. Mehr als das. Es war ein bisher kaum beachteter Sieg, der hier errungen wurde, ein Sieg in der Allianz von Sport und Christentum, der von der Öffentlichkeit noch nicht genügend wahrgenommen wurde. Immerhin macht dieser Sieg im Verborgenen es möglich, den Blick erneut auf den Menschen zu lenken, den Menschen wie du und ich, der vor allem in seiner Freizeit Sport treibt und sich im Sport entfalten und entwickeln kann. Dieser Blick öffnet einen weiten Horizont, überwindet er doch die Fokussierung auf den bezahlten Hochleistungssport weniger Topathleten und Topathletinnen, der in medialer Überinszenierung alle in den Bann schlagen kann und soll.
Sagen wir es konkreter. Überall wird der Werteverfall beklagt, überall das Schwinden von solchen Grundhaltungen kritisch beäugt, die man mit einem eher antiquiert wirkenden Wort als Tugenden bezeichnen kann. Nimmt man nun unvoreingenommen eine Analyse des Sports vor, sind in der sportlichen Tätigkeit grundlegende Werte und Tugenden immer schon enthalten. Will man nämlich eine Sportart mit ihren Regeln und Anforderungen mit anderen gemeinsam ausüben, fördert man, wie der Papst am 6. Oktober 2007 bei seiner Rede an die Ski-Nationalmannschaft aus Österreich deutlich hervorhob, die Herausbildung von tugendhaften Haltungen und Werten. Exemplarisch zählt er hierzu: "Ausdauer, Zielstrebigkeit, Einsatz- und Opferbereitschaft, innere und äußere Disziplin, Achtung vor dem anderen, Teamgeist, Solidarität, Gerechtigkeit, Fairness, Bewusstsein eigener Fehlbarkeit und andere mehr."
So kann man in den Wettkämpfen auf faszinierende Weise Disziplin und Menschlichkeit realisieren, aber auch artistische Schönheit und Entschlossenheit demonstrieren. Der Clou ist nun, dass der Sport auf diese Weise zu einer Schule für das Leben werden kann. Denn nicht allein für den sportlichen Erfolg, sondern für das Gelingen unseres eigenen Lebens trainieren wir. Deutlich sagte daher Benedikt XVI. bei seiner Rede zu den Teilnehmern der Schwimm-WM von Rom 2009: "Wie vor kurzem herausgestellt wurde, schult der Sport gerade bei jungen Menschen, die ihn mit Leidenschaft und einem klaren ethischen Sinn praktizieren, nicht nur den gesunden Kampfgeist, sondern er dient auch der körperlichen Ertüchtigung. Er fördert außerdem die Entwicklung menschlicher und geistlicher Werte und ist ein privilegiertes Mittel des persönlichen Wachstums und des Kontakts zur Gesellschaft."
Wenn beim Hören von solchen Worten sich vielleicht jemand aus dem Kreis der Sportler und Sportlerinnen fragen würde, ob der Papst den modernen Sport überhaupt kennt, zielt ein solcher Einwand sicherlich an dessen Intention vorbei. Denn es geht ihm darum, die Position des Menschen im Sporttreibenden aus der christlichen Sicht zu verteidigen, und zwar jeden Menschen in der gesamten Bandbreite möglicher Haltungen und Verfehlungen. Von hier aus ist es nicht verwunderlich, dass eine der wichtigsten Grundeinsichten von Papst Benedikt XVI., vielleicht sogar die wichtigste das Wiederanerkennen und das Eintreten für eine Sicht auf den Menschen ist, die in der Tradition und in der öffentlichen Meinung in den Hintergrund getreten war. Es ist die ganzheitliche Sicht auf den Menschen, in dem Körper, Seele und Geist untrennbar zusammengehören und harmonisch miteinander in Beziehung stehen. Dies wird möglich, wenn eine dieser Seiten nicht instrumentalisiert oder verabsolutiert wird, sondern sie sich wechselweise ergänzen und bereichern. In seiner genannten Rede anlässlich der Schwimm-WM in Rom sagt Papst Benedikt XVI. deshalb auch: "Daher verfolgt und befürwortet die Kirche den Sport, der nicht als Selbstzweck praktiziert wird, sondern als Mittel, als wertvolles Instrument, für die ganzheitliche und harmonische Entwicklung der Person." Auf diese Weise kann der Sport, wie der Papst unter Rückgriff auf die Bibel heraushebt, geradezu als ein "Lebensmodell" angesehen werden, das der "Entwicklung des Menschen" dient und ein "Bestandteil der menschlichen Kultur und Zivilisation" ist.
Es ist vor diesem Hintergrund sicherlich kein Zufall, dass der Papst am 11. Februar 2013 in seiner "Erklärung" zu seinem Rücktritt nicht nur auf seine geistige, sondern eben auch auf seine körperliche Kraft Bezug nimmt, auf die es zu achten gilt: "Aber die Welt, die sich so schnell verändert, wird heute durch Fragen, die für das Leben des Glaubens von großer Bedeutung sind, hin- und hergeworfen. Um trotzdem das Schifflein Petri zu steuern und das Evangelium zu verkünden, ist sowohl die Kraft des Körpers als auch die Kraft des Geistes notwendig, eine Kraft, die in den vergangenen Monaten in mir derart abgenommen hat, dass ich mein Unvermögen erkennen muss, den mir anvertrauten Dienst weiter gut auszuführen."
Liest man diese Worte in einem tieferen Sinne, spricht sich in ihr die Deutung des Menschen als eines ganzheitlichen Wesens aus, der sich innerhalb der Grenzen, die in dem je eigenen Möglichkeitsraum des Leiblichen stets gegeben sind, bewegen will. Diese will Benedikt nicht einfach leugnen, diese will er, wie es in den unterschiedlichen Weisen des Dopings geschieht, nicht einfach instrumentell überwinden, sondern sie als zu ihm gehörig annehmen. Gelingt ihm dies, kann er entsprechend seiner jeweiligen Lebensphase die Vollentfaltung seiner Person verwirklichen. Gelingt es ihm nicht, misst er sich selbst an äußeren Maßstäben, die seiner Person mit ihren je eigenen Bedingungen und Bedingtheiten innerhalb seiner Lebensgeschichte nicht angemessen sind.
Natürlich müssten eine Vielzahl weiterer Grundeinsichten von Papst Benedikt XVI. zum inneren Zusammenhang von Sport und Christentum vorgestellt werden, etwa zum Friedensgedanken und der Völkerverständigung. Nachdrücklich sagt er beispielsweise nach dem Angelus-Gebet hinsichtlich der Eröffnung der XXIX. Olympischen Spiele am 8. August 2008 in Peking, er "hoffe inständig, dass sie der internationalen Gemeinschaft ein echtes Beispiel für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichster Herkunft in Achtung vor der gemeinsamen Würde biete. Möge der Sport erneut Unterpfand der Brüderlichkeit und des Friedens unter den Völkern sein!" So kann mittels des angemessen ausgeübten Sports der Frieden und die Verständigung unter den Völkern gefördert werden, da er nicht zuletzt aufgrund seiner "universalen Sprache", die Benedikt mehrfach hervorhebt, alle an dem Sportgeschehen mittelbar und unmittelbar Beteiligten ansprechen kann.
Ob dies gelingt, vermag der Einzelne nicht zu überblicken und hat es auch allein nicht in der Hand. Aber er kann glaubend darauf hoffen und, wie er nach dem Angelus-Gebet am 22.Juli 2012 im Blick auf die Olympischen Spiele in London sagt, dafür beten, "dass nach dem Willen Gottes die Spiele von London eine echte Erfahrung der Brüderlichkeit unter den Völkern der Erde seien." Aber nicht nur diese Grundeinsichten wären vorzustellen, sondern beispielsweise auch Benedikts Aussagen zur Ökumene und Erziehung. Jede dieser Grundeinsichten müsste im nächsten Schritt ausgewertet und dann zu ihr Stellung bezogen werden. Sicherlich könnte man dann erkennen, dass Benedikt XVI. ein Sieg gelungen ist, bei dem die Deutung des Menschen im Sport und im Christentum gewinnen konnte.
Und man könnte dann vielleicht auch noch erkennen, dass es Papst Benedikt auf diese Weise eine Modernisierung des christlichen Menschenbildes gelungen ist. Eine Modernisierung, die nicht etwas völlig Neues herausgestellt hat, sondern einen Prozess anzustoßen vermag, innerhalb dessen die Vollentfaltung des Menschen von zentraler Relevanz ist.
Es liegt nun an uns, uns dieser Aufgabe nach dem Rücktritt Benedikts XVI. zu stellen und für den Sport und das Christentum den Gegenwartshorizont zu erweitern.