Darmstadt-Dieburg – Bomben auf syrische Krankenhäuser, Terroranschläge in westlichen Metropolen, hunderttausende verzweifelter Menschen auf der Flucht – kaum ein Tag vergeht ohne neue Schreckensmeldungen. Doch wo liegen die Ursachen dieser Entwicklung? Die Berichterstattung in den Medien kratze meist nur an der Oberfläche, kritisiert der Nahostexperte Michael Lüders.
Auf Einladung der Kreisvolkshochschule berichtete Lüders am Donnerstag (18.) im Saal der vhs im Kreishaus Dieburg in einem Vortrag über die Hintergründe der immer komplexer werdenden Konfliktlandschaft im Nahen Osten.
Knapp 100 Interessierte waren nach Dieburg gekommen, um Lüders Analyse zu hören und Fragen an den Experten zu stellen. Schon Tage zuvor war die Veranstaltung ausgebucht. „Wer den Wind sät: Was westliche Politik im Orient anrichtet“ heißt das jüngste Buch des promovierten Islamwissenschaftlers und langjährigen Nahostkorrespondenten der ZEIT.. Schon mit dem Titel stellt Lüders klar, dass er eine Mitverantwortung des Westens an der aktuellen Situation in Syrien und anderen arabischen Ländern sieht.
So sei es eine „Idiotie“, das Assad-Regime in Syrien um jeden Preis stürzen zu wollen, sagte Lüders. Denn die Situation in Syrien sei völlig anders als etwa in Ägypten oder Libyen: „Bis heute ist der Aufstand in Syrien kein Aufstand der gesamten Bevölkerung gegen das Regime“, wie es manche Zeitungsartikel darstellten. Die Hoffnung auf eine Lösung in Syrien, indem der Westen die gemäßigte syrische Opposition unterstütze, bezeichnete Lüders als „Revolutionsromantizismus“. Eine gemäßigte syrische Opposition gebe es nicht. Stattdessen aber komplexe Allianzen zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen, auch zwischen dem Assad-Regime und dem Islamischen Start (IS).
Wer die Konflikte in der arabischen Welt verstehen will, muss laut Lüders begreifen, dass dort eine andere soziale Struktur herrsche als in westlichen Ländern und sich die gesellschaftlichen Verhältnisse genauer anschauen. Dann verstehe man auch, warum die arabische Revolution anders verlaufen sei als erhofft. Die Mittelschichten in den jeweiligen Ländern seien zu schwach ausgeprägt, um die Veränderungen zu tragen.
Die Erklärung vor allem im Islam zu suchen sei zwar bequem, aber falsch. Auch der Siegeszug des sogenannten Islamischen Staats sei mit Religion allein nicht zu erklären. Das vom IS ausgerufene Kalifat ziehe viele junge Menschen an, die in den Ländern, in denen sie lebten, keinerlei Perspektive hätten. Für Lüders ist klar, dass der IS nicht militärisch besiegt werden kann. Gefragt seien pragmatische Ansätze und Gelassenheit statt purem Aktionismus.
Eine nüchterne Bilanz zog Lüders auch, was die Flüchtlingssituation angeht: „Wir stehen erst am Anfang der Flüchtlingsbewegung“, erläutert der Nahostexperte. Der Krieg in Syrien wird nach Einschätzung des Experten noch lange weitergehen. Umso wichtiger sei eine gelungene Integration der Flüchtlinge in die deutsche Gesellschaft. Dies sei eine Aufgabe, die nicht nur an die Politik delegiert werden könne, sondern alle angehe.