Karlsruhe – Das Mittelalter hat den Ruf einer nicht wissenschaftsfreundlichen Zeit: Wer abseits ausgetretener Pfade nach neuen Erkenntnissen suchte, konnte sich auf dem Scheiterhaufen widerfinden. So gilt der Beitrag der Epoche zum technischen Fortschritt als überschaubar. Doch jetzt haben sich Wissenschaftler des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) bei der Herstellung eines neuen Metamaterials mit neuartigen Eigenschaften von mittelalterlichen Kettenhemden inspirieren lassen. Es ist ihnen so gelungen, den Hall-Koeffizienten eines Materials umzukehren.
Der Hall-Effekt beschreibt das Auftreten einer querverlaufenden elektrischen Spannung in einem stromdurchflossenen Leiter, wenn sich dieser in einem Magnetfeld befindet. Der Effekt, der zum Grundstoff des Physikstudiums gehört, bietet somit eine einfache Möglichkeit, die Stärke von Magnetfeldern zu messen. Er bildet die Grundlage magnetischer Sensoren in Autos, etwa bei Drehzahlsensoren, oder der Kompasse in Smartphones. Neben der Messung von Magnetfeldern kann der Hall-Effekt aber auch zur Charakterisierung von Metallen und Halbleitern eingesetzt werden. So kann zum Beispiel die Ladungsträgerdichte des Materials bestimmt werden. Insbesondere kann aus dem Vorzeichen der gemessenen Hall-Spannung darauf geschlossen werden, ob die Ladungsträger im Element, aus dem der Halbleiter besteht, positive oder negative Ladung tragen.
Dass es möglich sei, den Hall-Koeffizienten eines Materials (wie etwa Gold oder Silizium) umzukehren – also sein Vorzeichen zu drehen –, hatten Mathematiker theoretisch vorhergesagt. Gelingen sollte dies mittels einer kettenhemdähnlichen dreidimensionalen Ringstruktur, die Ähnlichkeiten mit einem historischen Kettenpanzer aufweist. Das Vorhaben aber tatsächlich zu realisieren, galt bislang als zu anspruchsvoll, da das millionstel-meter-kleine Ringgeflecht dazu aus drei verschiedenen Komponenten hätte zusammengesetzt werden müssen.
Christian Kern, Muamer Kadic und Martin Wegener vom Institut für Angewandte Physik am KIT fanden nun heraus, dass ein einziges Grundmaterial ausreicht, wenn die gewählte Ringstruktur einer bestimmten geometrischen Anordnung folgt. Zunächst stellten sie mi einem höchstauflösenden 3-D-Drucker Polymergerüste her, die sie anschließend mit dem Halbleiter Zinkoxid beschichteten.
Das Ergebnis des Experiments: Sie können nun Metamaterialien herstellen, deren Koeffizient positiv ist, selbst wenn deren Komponenten einen negativen Koeffizienten haben. Das klingt fast ein wenig nach Stein der Weisen, jener Formel, mit deren Hilfe die mittelalterlichen Alchemisten eine Substanz in eine andere zu verwandeln trachteten. Irgendeine Verwandlung allerdings findet hier nicht statt: „Die Ladungsträger im Metamaterial sind nach wie vor negativ geladene Elektronen“, erklärt Christian Kern. „Es verhält sich in Hall-Messungen lediglich so, als wären diese positiv geladen, da sie durch die Struktur auf Umwege gezwungen werden.“
Einen praktischen Nutzen habe die Entdeckung bislang nicht, so Kern. Denn Feststoffe sowohl mit negativem als auch positivem Hall-Koeffizienten gibt es in ausreichendem Maße. Doch Kern möchte weiter forschen: Der nächste Schritt sei die Herstellung anisotroper Strukturen, in denen eine Hallspannung in Magnetfeldrichtung – nicht wie normalerweise senkrecht zu Strom- und Magnetfeldrichtung – auftritt. Derartige Materialien könnten Anwendung in neuartigen Sensoren zur direkten Messung von Wirbeln in Magnetfeldern finden.