Mainz: Fördermittel für Mainzer Historiker zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit

Förderprogramm

Mainz – Im Rahmen des von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) aufgelegten Forschungsprogramms zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zentraler deutscher Behörden werden gleich zwei Projekte des Historischen Seminars der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) gefördert:

Dr. Verena von Wiczlinski, Akademische Rätin im Arbeitsbereich Zeitgeschichte, untersucht die Formierungsphase der Landesjustizbehörden nach 1945 im deutsch-deutschen Vergleich (Leitung: Prof. Dr. Michael Kißener). Thorsten Holzhauser, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Neueste Geschichte, stellt sich im internationalen Vergleich die Frage, wie eine Demokratie mithilfe „belasteter“ Beamter aufgebaut werden kann und wie andere europäische Länder mit diesem Problem nach dem Zweiten Weltkrieg umgegangen sind. Regimewechsel und Elitenkontinuität in post-totalitären Demokratien nach 1945 stehen im Mittelpunkt seines Forschungsprojekts (Leitung: Prof. Dr. Andreas Rödder). Bis 2020 stellt das BKM für beide Projekte insgesamt 505.000 Euro zur Verfügung.

Kulturstaatsministerin Monika Grütters hatte im November 2016 ein Forschungsprogramm zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit der Ministerien und zentraler deutscher Behörden ausgeschrieben. Sie folgte damit den Anregungen einer von ihr in Auftrag gegebenen Studie des Instituts für Zeitgeschichte und des Zentrums für Zeithistorische Forschung („Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus – Stand und Perspektiven der Forschung“). Unter den zehn ausgewählten Forschungsvorhaben wurde die JGU mit zwei Projekten des Historischen Seminars als einzige Universität doppelt berücksichtigt.

Der Aufbau der Justiz in den Ländern nach 1945 im deutsch-deutschen Vergleich

Mit dem innovativen Forschungsprogramm des BKM soll ein neuer ressortübergreifender Zugang gefunden werden, mit dem Querschnittsthemen und auch vergleichende Ansätze – etwa zur Einbeziehung von DDR-Behörden – verfolgt werden können. So nutzt das Forschungsprojekt von Dr. Verena von Wiczlinski das Potential des deutsch-deutschen Vergleichs unter Einbeziehung von DDR-Behörden. Dabei geht sie der Frage nach, wie sich das Führungspersonal der Justiz in insgesamt vier Ländern der vier Besatzungszonen zusammensetzte und welche Auswirkungen nationalsozialistische (Dis-)Kontinuitäten auf Verwaltungshandeln und Rechtspflege hatten, wie also Juristen unter gewandelten politischen Vorzeichen in Verwaltung und Rechtsprechung vorgingen. Für die vier untersuchten Länder können so untereinander vergleichbare Kollektivbiographien der entsprechenden juristischen Eliten entstehen, die über personelle Kontinuitäten und den Grad der nationalsozialistischen Belastung sowie die Bedeutung primär juristischer oder politischer Expertise als Auswahlkriterien für die Besetzung wichtiger Posten Aufschluss geben. Damit werden exemplarisch qualitative Aussagen darüber ermöglicht, ob die untersuchten Gruppen von Spitzenjuristen der vier Länder als Personenverbände über ein klassisch berufsständisches Denken hinaus, wie es auch für andere berufsständisch geprägte Gruppen wie Ärzte oder Apotheker gilt, konkret in die west- und ostdeutsche Gesellschaft in der Nachkriegszeit hineinwirkten. Im Falle der DDR ist dabei insbesondere zu fragen, inwiefern im Zuge der vergangenheitspolitischen Aufarbeitung eine Umgestaltung im sozialistischen Sinne stattfand. In Verbindung mit weiteren Studien soll das Projekt zu einem dichteren Wissen über die Phase des Übergangs vom Nationalsozialismus zu einem in Ost und West unterschiedlichen neuen politischen System beitragen.

Regimewechsel und Elitenkontinuität in post-totalitären Demokratien nach 1945

Thorsten Holzhauser untersucht in seinem Forschungsprojekt Regimewechsel und Elitenkontinuität in post-totalitären Demokratien nach 1945 im internationalen Vergleich. Wie können „belastete Beamte“ und ihre im Namen eines totalitären Regimes begangenen Verbrechen geahndet werden? Ist es in einer Demokratie überhaupt möglich und sinnvoll, größere Teile der Bevölkerung aufgrund ihrer Vergangenheit auszuschließen? Und wie soll ohne sie der Wiederaufbau gelingen? Vor diesen Fragen stand nicht nur die deutsche Politik und Gesellschaft nach dem Untergang des nationalsozialistischen Regimes. Auch in Ländern wie Italien, Frankreich und Österreich, die nach dem Weltkrieg ebenfalls eine Rückkehr zur Demokratie vollzogen, stellte die Frage des Umgangs mit ehemaligen Regime-Eliten und ihrer Schuld eine zentrale Herausforderung dar. Thorsten Holzhauser geht so der Frage nach, inwiefern sich der politische und gesellschaftliche Umgang mit Vertretern der vorangegangenen Regime in diesen postdiktatorischen Gesellschaften nach 1945 voneinander unterschied und welche Gemeinsamkeiten es gab. Dabei soll nicht nur auf administrative Brüche und Kontinuitäten geblickt werden, sondern auch auf die gesellschaftlichen Diskurse, Legitimationsmuster sowie auf die internationalen Rahmenbedingungen und die gegenseitigen, transnationalen Einflüsse. Mit der Untersuchung der Besonderheiten des westdeutschen Umgangs mit „belasteten“ Eliten und der möglichen Identifikation übergreifender Gemeinsamkeiten will Thorsten Holzhauser auch einen Beitrag leisten, um die archivgestützte deutsche Grundlagenforschung international einzuordnen und die öffentliche Debatte um eine international vergleichende Perspektive zu bereichern.

Die Auswahl der Projektanträge erfolgte auf der Grundlage des Votums einer siebenköpfigen Expertenkommission aus unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die die Kulturstaatsministerin berufen hatte.