Mainz – „Es ist ein Spiel“, erklärt Moderator Ken Yamamoto gleich zu Beginn. Denn nicht alle Besucher wissen vielleicht, was sie erwartet bei „Mach’s Maul auf“.
So hieß das etwas provokant klingende Motto des Poetry Slams zum Luther-Jubiläum, zu dem das Evangelische Dekanat Mainz in der Reihe „Mainz lebt auf seinen Plätzen“ auf den Karmeliterplatz eingeladen hatte. Rund 120 Menschen – jung und alt, gut gemischt – sind gekommen, um sich anzuhören, was vier junge Poeten ihnen zu sagen haben. Sie tragen jeweils einen Original-Luther-Text vor, den sie im Anschluss mit einem eigenen Text konfrontieren.
„Poetry Slam“ – also schon wieder so ein Wort, für das die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) vor wenigen Tagen vom Verein für deutsche Sprache mit dem Titel Sprachpanscher des Jahres“ gekürt wurde. Dekan Andreas Klodt ist dankbar für eine solche Steilvorlage. Daher dankt er „dem Conferencier – pardon, dem Moderator“ und erklärt, dass es sich um einen „Dichterwettbewerb“ handelt. Die vier Poeten treten gegeneinander an. Das Publikum entscheidet durch die Lautstärke des Beifalls, welche beiden von ihnen ins Finale kommen.
Zunächst spielt Peter Bongard auf dem Piano zwei jazzige Stücke, die eher leise daherkommen und so den perfekten Boden für die Poeten bereiten. Artem Zolotarov aus Mainz liest aus einem Brief Luthers von 1546, in dem der Reformator seine Judenfeindlichkeit ausbreitet. Zolotarov geht das Thema differenziert an:
„Man muss Luther in der Tradition des 16. Jahrhunderts sehen. Bei ihm stand nicht die jüdische Herkunft im Mittelpunkt seiner Schelte, sondern der jüdische Glaube.“
Zolotarov lässt sich nicht von Sprachklischees leiten oder gar Effekt-Hascherei. Er stellt klar:
„Luther kannte nur wenige Juden. Ähnlich ist es heute mit der Ausländerfeindlichkeit in Deutschland. Wo am wenigsten Ausländer wohnen, sind die Ängste vor Ausländern am größten.“
Eine Denkmalverehrung für Luther lehnt Zolotarov entschieden ab.
Mirjam Reininger aus Mainz liest aus „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Zwei Sätze daraus sind für sie elementar:
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Reininger ist katholisch erzogen worden, erzählt sie. Über ihren gläubigen Vater, der im Publikum sitzt, sagt sie:
„Ich beneide ihn um die Hoffnung, die er in seinem Herzen trägt, beneide ihn um die Gewissheit, dass sich jeder Sturm auch wieder legt. Beneide ihn um dieses Gottvertrauen, denn er ist wirklich nicht naiv, doch er hat immer weitergemacht, völlig egal, wie schlecht es grad lief.“
Und zu Luther?
„Ich würde „Christenmensch“ mit „guter Mensch“ austauschen, aber ich mag seine Idee von einem freien Knecht.“
Kaleb Erdmann aus Frankfurt nimmt sich ebenfalls der Freiheit eines Christenmenschen an. Er hat seinen eigenen Text Thomas Müntzer gewidmet, dem berühmten Widersacher Luthers. Für Erdmann war Luther kein Protestant im Sinne eines gegen die weltliche Herrschaft protestierenden Mannes. Im Gegenteil: „Luther war konterrevolutionär.“ Erdmanns Bekenntnis lautet:
„Ich will nicht nur in der Seele frei sein, ich will in der Welt frei sein.“
Marco Michalzik aus Darmstadt liest seinen Luther-Text vom Smartphone ab, es ist die Übersetzung von Psalm 23: „Der Herr ist mein Hirte.“ Michalzik fragt, wenn er sich nur einmal am Tag die Nachrichten aus aller Welt anschaut:
„Gott, wo bist du – Gott, wo bist du zwischen Granaten und Landminen? Warum ist der Segen so ungerecht verteilt?“
Reininger und Michalzik kommen ins Finale. Peter Bongard spielt „Eine feste Burg ist unser Gott“ in freier Interpretation, bevor es zur Entscheidung kommt. Die beiden Poeten tragen jeweils einen Text ohne Luther-Bezug vor. Das Publikum feiert die vermeintlichen Kontrahenten ausgelassen. Der Moderator sagt noch einmal:
„Es ist ein Spiel. Und unser Bildungsauftrag ist Liebe. Heute haben wir Doppelsieger.“