Heidelberg – Sieben Ur- und europäische Erstaufführungen, eine gefeierte Koproduktion, neun Hörfunkmitschnitte, Livestreams der Lied Akademie mit über 30 000 Zuschauern weltweit und umfassende Berichte in regionalen, nationalen und internationalen Medien – der „Heidelberger Frühling“ zieht 2018 eine herausragende Bilanz. Wenn das internationale Musikfestival am morgigen Samstag mit einem Konzert des Mahler Chamber Orchestra unter Leitung von Daniele Gatti seine 22. Saison beendet, werden rund 47.000 Besucher die diesjährigen 126 Veranstaltungen erlebt haben, von denen 56 ausverkauft waren.
Der „Heidelberger Frühling“ stand 2018 unter dem Leitgedanken „Eigen-Arten“. Es war der zweite Teil einer Trilogie, die sich mit Kerngedanken der Aufklärung auseinandersetzt. Im Zentrum stand das kollektive Selbstverständnis des sogenannten „Westens“, das maßgeblich auf Werten der Aufklärung wie beispielsweise Freiheit basiert. „In den vergangenen Wochen bin ich vor dem Hintergrund des Festival-Leitgedankens immer wieder gefragt worden, ob denn Musik politisch sein könne“, so Thorsten Schmidt, Intendant des „Heidelberger Frühling“. „Meine Haltung dazu ist, dass wir als Festival, als verantwortliche Programmgestalter ein Bekenntnis ablegen können und müssen – über die Themen, die wir mit unserem Programm setzen, über die Auswahl der Werke, die Künstler, die wir einladen, und über den dramaturgischen Leitfaden. Selten zuvor war es in den letzten Jahrzehnten so notwendig, Haltung zu zeigen und nicht jenseits dessen zu agieren, was die Welt bewegt. Musiker interpretieren Musik, das ist ihre Berufung. Manche von ihnen mischen sich jenseits dieser Berufung ein in den gesellschaftlichen Diskurs. Viele nicht. Das ist in Ordnung. Aber wir als Festival können uns dieses Nicht-Einmischen nicht leisten. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass nur die Wahrnehmung der Verpflichtung eines mündigen Bürgers die Demokratie sichert. Wer kann, sollte seine Stimme erheben. Die Verhaltensweise eines mündigen Bürgers muss meines Erachtens auch ein Festival über seine Gestalter an den Tag legen.“
Nicht-Einmischen kommt auch für die Pianistin Gabriela Montero nicht infrage. Ihr politischer Einsatz, durch Musik und Taten, hinsichtlich des brutalen Machtregimes in ihrer Heimat Venezuela waren neben ihrer Vermittlungsgabe ein ausschlaggebender Grund dafür, dass sie mit dem diesjährigen Musikpreis des „Heidelberger Frühling“ ausgezeichnet wurde. In ihrer Dankesrede bei der Verleihung am Eröffnungswochenende des Festivals fand sie berührende und deutliche Worte zugleich: José Antonio Abreu, wenige Tage nach der Preisverleihung verstorbener und Gründer von „El Sistema“ und gleichfalls Unterstützer Gustavo Dudamel seien eine „Propagandabeziehung mit dem Regime“ eingegangen, indem sie sich unter dem Deckmantel der Nachwuchsförderung, die „El Sistema“ propagiert, verstecken. Die Laudatio auf Gabriela Montero hielt Pianist Igor Levit. (Die gesamte Dankesrede und die Laudatio können Sie hier nachlesen).
Die Binnenfestivals des „Heidelberger Frühling“ – das Kammermusikfest „Standpunkte“ und das Wochenende „Neuland.Lied“ – thematisierten den Leitgedanken „Eigen-Arten“ komplementär. Die „Standpunkte“ des Pianisten Igor Levit widmeten sich den USA, deren emphatischer Freiheitsbegriff nicht zuletzt für die Musik fruchtbar geworden ist, weil kaum ein Komponist jenseits des Großen Teichs sich Dogmen unterordnete. Hörbar wurde dies in Werken von Charles Ives, Marc Copland, Samuel Barber, David Bruce, Frederic Rzewski (europäische Erstaufführung von „Demons“), Morton Feldman, John Cage und Philip Glass. Zugleich erinnerte ein Ragtime-Konzert von Igor Levit mit Musik schwarzer Komponisten wie Scott Joplin daran, dass die Vereinigten Staaten keineswegs immer ein Hort der Freiheit für alle Bevölkerungsgruppen waren und sind. Als weitere Facette widmete sich ein Wandelkonzert den Exilkomponisten Ernst Krenek, Paul Hindemith und Hanns Eisler. Die Eröffnungsrede der „Standpunkte“ hielt der ehemalige Bundestagspräsident Nobert Lammert, darüber hinaus gab es Vorträge und eine Podiumsdiskussion zum Thema. Als Künstler wirkten neben Igor Levit unter anderem der Geiger Benjamin Beilman, der Klarinettist Julian Bliss, das JACK Quartet, der Bariton Georg Nigl, die Geigerin Isabelle Faust und der Cellist und diesjährige Residenzkünstler Jean-Guihen Queyras mit, der hier erstmals gemeinsam mit dem Pianisten Marc-André Hamelin aufgetreten ist. Das Finale der „Standpunkte“ war einer von sechs Auftritten, die Marc-André Hamelin 2018 beim „Heidelberger Frühling“ hatte.
Komplementär zum politischen Ansatz der „Standpunkte“ griff das experimentierfreudige „Neuland.Lied“ die subjektiveren, privateren, weniger dem Verstand als dem Gefühl zugehörigen „Eigen-Arten“ auf. „Was macht uns aus?“, lautete hier die Frage. Eine Antwort darauf fand das Liedfestival bei Robert Schumann: unsere Widersprüchlichkeit, unsere Heimatlosigkeit, unsere Sehnsüchte, Hoffnungen und Ängste – Eigenarten, die allen Menschen eigen sind, so kulturell unterschiedlich sie auch geprägt sein mögen. Fünf große Schumann-Zyklen des Liederjahres 1840 (sowie das Spätwerk „Fünf Gedichte der Königin Maria Stuart“) wurden in die unterschiedlichsten Zusammenhänge gestellt, mit Improvisation, Alter und Neuer Musik gekoppelt. Auch unkonventionelle Inszenierungen – beispielsweise als inszeniertes Hauskonzert mit Schauspielerin Martina Gedeck oder als literarisch-musikalische Begegnung mehrerer Liebesgeschichten aus Vergangenheit und Gegenwart – ermöglichten neue Perspektiven auf die Gattung. Zu hören waren unter anderem die Tenöre Mark Padmore und Ilker Arcayürek, die Mezzosopranistinnen Anna Stéphany und Tara Erraught und die Sopranistinnen Anna Lucia Richter und Sarah Maria Sun.
Kreativer Freiraum und bereichsübergreifender Austausch waren auch 2018 die Kerncharakteristika der Heidelberg Festival Akademie. Die Akademien Lied und Kammermusik luden zu öffentlichen Meisterkursen, Workshops und Mittagskonzerten ein und Instrumentalisten wirkten beim Kammermusikfest „Standpunkte“ mit. Im Bereich Komposition waren die US-Amerikanerin Anna-Louise Walton und der Brite Oliver Christophe Leith eingeladen, bei einem nachmittäglichen Werkstattgespräch ihre vom „Heidelberger Frühling“ in Auftrag gegebenen Werke vorzustellen, bevor sie spätabends bei der „Nacht der Neuen Musik“ uraufgeführt wurden. Leiter der Festival Akademien waren erneut Thomas Hampson (Lied), Igor Levit (Kammermusik) und Eleonore Büning (Musikjournalismus), denen als Mentoren unter anderem der Cellist Isang Enders, der Bratschist Volker Jacobsen und der Klavierbegleiter Graham Johnson zur Seite standen.
Design Thinking, kreativer Freiraum und Platz für Querköpfe – so will es das „Lab“ des „Heidelberger Frühling“, das 2018 in die zweite Runde ging. In diesem temporären „Think Tank“ zu Zukunftsfragen der Musikwelt kamen erneut zehn junge Kulturprofis aus verschiedenen Disziplinen zusammen: Komposition, Regie, Schauspiel, Videoperformance, Dramaturgie, Musikwissenschaft und Journalismus. Es wurden Ideen und Formate erdacht, die es weiterzuentwickeln gilt, damit es zu neuartigen Produktionen kommt – egal ob in Heidelberg oder andernorts.
Der 23. „Heidelberger Frühling“ findet vom 16. März bis zum 13. April 2019 statt.