Mainz – Eine der großen Fragen in der Evolutionsbiologie gilt dem Übergang von solitär lebenden Organismen zur Entwicklung von sozialen Lebensformen, wie sie Ameisen und andere staatenbildende Insekten zeigen.
Ein wesentliches Merkmal eusozialer Arten ist die Arbeitsteilung zwischen Königinnen, die Eier legen, und Arbeiterinnen, die sich um die Brut kümmern oder andere Aufgaben übernehmen. Aber woran entscheidet es sich, dass eine Königin Eier legt und Arbeiterinnen nicht? Wie ist diese Trennung im Lauf der Evolution entstanden? Der Evolutionsbiologe Dr. Romain Libbrecht hat sich mit diesen Fragen in den vergangenen Jahren befasst und zusammen mit Wissenschaftlern der New Yorker Rockefeller University eine völlig überraschende Antwort gefunden: Ein Gen alleine, das Insulin-like Peptid 2 (ILP2), kann zu einer Aktivierung der Eierstöcke und damit zur Fortpflanzung führen – wahrscheinlich ausgelöst durch bessere Ernährung.
„Es ist fast unglaublich, dass nur ein Gen den Ausschlag gibt“,
sagt Romain Libbrecht. Das Ergebnis basiert auf einem Vergleich von 5581 Genen in sieben Ameisenarten, die aus drei verschiedenen Unterfamilien stammen und sich in zahlreichen Merkmalen unterscheiden. Nur die Expression von ILP2 war immer signifikant erhöht in reproduktiven Tieren. Königinnen besitzen also mehr davon als Arbeiterinnen. ILP2, so ein weiterer Befund, ist nur im Gehirn zu finden, wo es in einem kleinen Cluster von 12 bis 15 Zellen erzeugt wird.
Entkopplung von Reproduktion und Brutpflege als Grundlage sozialer Staatenbildung
Am Anfang der Entwicklung in Richtung Sozialstaat standen, so wird vermutet, wespenähnliche Vorfahren, die zwischen Fortpflanzung und Brutpflege abwechselten: Eine weibliche Wespe legte ein Ei und kümmerte sich um die Larve bis zu ihrer Verpuppung. Damit Eusozialität entstehen konnte, mussten diese beiden Phasen entkoppelt und die jeweiligen Aufgaben an unterschiedliche Individuen vergeben werden, Königinnen und Arbeiterinnen.
Um die molekularen Mechanismen aufzudecken, die hinter dieser Entkoppelung stehen, haben Libbrecht und seine New Yorker Kollegen die Ameisenart Ooceraea biroi herangezogen. O. biroi ist eine kleine Art von 2 bis 3 Millimeter Länge, die ursprünglich aus Asien stammt, sich aber in den Tropen verbreitet hat. Die Tiere leben in unterirdischen Gängen, überfallen die Nester von anderen Ameisenarten und ernähren sich von der Brut. Das Besondere aber ist, dass O. biroi keine Königinnen kennt, sondern nur Arbeiterinnen. Allerdings können sich alle Arbeiterinnen über Parthenogenese fortpflanzen. Das heißt, Weibchen produzieren genetisch identische Weibchen, die Tiere klonen sich selbst. Sie folgen dabei einem bestimmten Zyklus: Während 18 Tagen legen alle Arbeiterinnen Eier, anschließend gehen sie 16 Tage lang auf Futtersuche und ernähren die Larven. Dann beginnt der Zyklus von vorn.
Dieses zyklische Verhalten, das dem der solitären wespenähnlichen Vorfahren vergleichbar ist, wird durch die Anwesenheit von Larven gesteuert: Wenn gegen Ende der Reproduktionsphase die ersten Larven schlüpfen, unterdrücken sie die Aktivität der Eierstöcke und lösen Brutpflegeverhalten aus. Und wenn die Larven gegen Ende der Brutpflegephase mit der Verpuppung beginnen, wird die Aktivität der Eierstöcke wieder gesteigert und die Futtersuche lässt nach.
„Diesen Zyklus haben wir gebrochen“,
erklärt Libbrecht zu der Forschungsarbeit. Die Wissenschaftler haben das Peptid ILP2 synthetisiert und den Ameisen injiziert. Daraufhin haben die Ameisen auch in Gegenwart von Larven Eier gelegt.
Beim „Brut-Austausch-Experiment“ hat Libbrecht untersucht, was passiert, wenn Larven während der Reproduktionsphase der Kolonie hinzugefügt und umgekehrt während der Brutphase entfernt werden.
„Wir sehen dann, dass sich in beiden Fällen die Genexpression ändert und die Ameisen sich umstellen. Allerdings erfolgt die Veränderung schneller, wenn wir eierlegenden Ameisen Larven unterschieben.“
Die Insekten beenden dann die Eiablage und sorgen sich um die Pflege der Nachkommen.
„Das ist auch sinnvoll. Schließlich ist es für das Überleben wichtig, dass die Larven schnell versorgt werden“,
sagt Libbrecht. Auch bei diesem Experiment zeigte sich die Dominanz von ILP2, das auf die veränderten Bedingungen sehr früh und sehr stark reagiert.
Von Asymmetrie in der Nahrung zur Asymmetrie in der Fortpflanzung
In einem weiteren Schritt wendeten sich die Wissenschaftler der Rolle der Nahrung zu, die für die Ausbildung von Königinnen oder Arbeiterinnen bekanntermaßen wichtig ist. Eine hohe Quantität oder eine gute Qualität von Proteinen in der Nahrung lässt Königinnen entstehen. Nun besteht im Falle der Ameisenart O. biroi ein kleiner Anteil von etwa 5 Prozent der Ameisen in einer Kolonie aus sogenannten Interkasten. Diese Tiere sind im Durchschnitt etwas größer, haben schwach entwickelte Augenflecken und pflanzen sich außerdem stärker fort. Sie ähneln damit ein bisschen den „normalen“ Königinnen. Werden Larven besser gefüttert, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu Interkasten werden. Fluoreszenzaufnahmen zeigen, dass diese Interkasten mehr ILP2 im Gehirn aufweisen als normale Arbeiterinnen.
„Etwas Vergleichbares hat sich vielleicht bei den Vorfahren der eusozialen Insekten abgespielt“,
meint Libbrecht.
„Eine kleine Asymmetrie in der Nahrung hatte eine Asymmetrie bei der Fortpflanzung im Erwachsenenalter zur Folge.“
Die Aufspaltung in Königinnen und Arbeiterinnen wäre damit auf einen ersten einzelnen Unterschied zurückzuführen – eine Annahme, die von den Untersuchungen an insgesamt sieben ganz unterschiedlichen Ameisenarten gestützt wird.
Weitere Forschungen sollen nun zeigen, ob sich die Ergebnisse auch auf andere soziale Insekten übertragen lassen oder aber wie der „Superorganismus Ameisenkolonie“ die Nahrungsversorgung insgesamt steuert.
Romain Libbrecht ist seit 2016 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und leitet hier die Gruppe Reproduktion, Ernährung, Verhalten in Insektengesellschaften. Zuvor hat er als Marie-Curie-Postdoc mit Daniel Kronauer an der Rockefeller University gearbeitet.