Wiesbaden – Der hessische Kultusminister Prof. Dr. R. Alexander Lorz hat heute nach eingehender Prüfung der von DITIB Landesverband Hessen e.V. („DITIB Hessen“) eingereichten Unterlagen und auf Basis aktualisierter gutachterlicher Einschätzungen von Prof. Dr. Mathias Rohe (islamwissenschaftlich), Dr. Günter Seufert (turkologisch) und Prof. Dr. Josef Isensee (verfassungsrechtlich) mitgeteilt, dass die Vollziehung des Bescheids von 2012 zur Einrichtung eines bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts in Kooperation mit DITIB Hessen zum Ende des laufenden Schuljahres ausgesetzt wird.
Dies bedeutet, dass ab dem neuen Schuljahr 2020/2021 der fragliche Religionsunterricht bis auf Weiteres nicht mehr erteilt wird; eine diesbezügliche Kooperation mit DİTİB Hessen findet nicht mehr statt. Davon sind alle bisherigen 56 Standorte in der Grundschule sowie zwölf weiterführende Schulen (5. und 6. Jahrgangsstufe) betroffen. Der in Kooperation mit Ahmadiyya Muslim Jamaat Deutschland K.d.ö.R. eingerichtete weitere bekenntnisorientierte islamische Religionsunterricht bleibt davon unberührt.
„Diese Entscheidung habe ich getroffen, weil – ausweislich der aktualisierten Gutachten – die Zweifel an der Erfüllung der notwendigen Kriterien durch DITIB Hessen weiterhin nicht im notwendigen Maße ausgeräumt werden konnten. Aus heutiger Sicht ist auch nicht zu erwarten, dass die Defizite in absehbarer Zeit beseitigt werden können. Dies betrifft insbesondere die Frage der hinreichenden Unabhängigkeit DITIB Hessens vom türkischen Staat. Aufgrund dieser ungünstigen Prognose lässt sich der DITIB-Hessen-Religionsunterricht bis auf Weiteres nicht mehr fortsetzen. Der Gesprächsfaden mit DITIB Hessen bleibt grundsätzlich erhalten; künftige Gespräche werden aber – anders als bisher – außerhalb eines aktiven Kooperationsverhältnisses stattfinden“, erklärte Kultusminister Lorz heute auf einer Pressekonferenz in Wiesbaden. „Um es mit den Worten des Gutachters Isensee zu sagen: ‚Die Aussicht, dass die türkische Regierung [DITIB Hessen] die belastbare und für Außenstehende erkennbare Gewähr der hinreichenden Unabhängigkeit einräumt, ist gering. Dennoch ist sie nicht auszuschließen.‘ Die Aussetzung des Bescheides hält die Chance dafür deshalb offen.“, so Lorz weiter.
Aktualisierte Gutachten: kein „Weiter so“
Das aktualisierte Gutachten des Bonner Staatsrechtlers Isensee betont, dass trotz der zwischenzeitlichen und anerkannten Bemühungen DITIB Hessens bis auf Weiteres die Erfüllung der notwendigen Kriterien zur Erteilung des Unterrichts nicht erreicht wird: „DITIB Hessen bildet das letzte Glied einer Weisungskette, die über den Bundesverband zur türkischen Religionsbehörde DIYANET führt, die ihrerseits unmittelbar dem türkischen Staatspräsidenten untersteht. In dieser Organisationseinheit verfügt der Landesverband nicht über jenes Minimum an institutioneller Unabhängigkeit, deren er bedarf, um selbstbestimmt seine Aufgabe als Religionsgemeinschaft erfüllen zu können. Die jüngsten Reformen der Satzung und der Organisation tragen dazu schon deshalb nicht bei, weil sie die höheren Ebenen nicht binden.“ Und weiter: „Die Vorhaben zur Verbesserung der Kooperationstüchtigkeit sind zielförderlich. Auch die Änderungen der Satzung und der Organisation entfalten, für sich genommen, brauchbare Ansätze. Doch diese Maßnahmen des Landesverbandes ändern nichts an seiner Stellung zum Gesamtverband DITIB und zum türkischen Staat. Sie tragen nicht bei, den fundamentalen Defekt zu beheben: das Übermaß an Staatsabhängigkeit.“
Angesichts dieses Befundes komme es, so Isensee, durchaus in Betracht, den Einrichtungsbescheid zu widerrufen: „Die defiziente Organisationsstruktur bildet einen Widerrufsgrund. Der Widerruf braucht nicht zu warten, bis es bei DITIB Hessen zu Störungen gekommen ist.“ Unausweichlich sei der Widerruf indes nicht, vielmehr sei eine Ermessensentscheidung zu treffen: „Weder ergibt sich eine rechtliche Notwendigkeit zum Widerruf noch eine rechtliche Sperre der Widerrufsbefugnis. Das Ministerium kann politisch entscheiden, ob es den Einrichtungsbescheid aufhebt oder nicht.“ Die vollständige Vollzugsaussetzung bilde eine mögliche Alternative, die zudem für DITIB Hessen die „schonendere Lösung“ sei: „Der Einrichtungsbescheid könnte im Vollzug ausgesetzt werden, um dem Landesverband Gelegenheit zu verschaffen, Staatsunabhängigkeit zu gewinnen und zu erreichen, dass die höheren Ebenen des türkischen Religionssystems ihm das hinreichende Maß an Unabhängigkeit einräumen […]. Freilich ist die Chance gering, dass die türkische Regierung sich darauf einlässt. Doch unmöglich ist sie nicht. Die Aussetzung hält die Tür für weitere Beratungen wie für die Rückkehr des DITIB-Religionsunterrichts offen. […] Ob und wann sich eine positive Lösung ergibt oder zeigt, dass mit ihr nicht mehr zu rechnen ist, lässt sich nicht vorhersagen. Die Sache ist einen Versuch wert.“
„Islamunterricht“ als staatliches Bildungsangebot insbesondere für Schülerinnen und Schüler muslimischen Glaubens wird ausgeweitet
Schon im laufenden Schuljahr 2019/2020 wird seitens der Schulverwaltung mit dem Schulversuch „Islamunterricht“ ein religiöses Unterrichtsangebot erprobt, das – anders als ein Religionsunterricht im Sinne des Grundgesetzes – nicht bekenntnisorientiert ist. Dieser Schulversuch, an dem rund 150 Schülerinnen und Schüler der 7. Jahrgangsstufe sowie neun Lehrkräfte an sechs weiterführenden Schulen teilnehmen, ist in alleiniger staatlicher Verantwortung – ohne die Beteiligung von Religionsgemeinschaften – organisiert und bietet insbesondere muslimischen Schülerinnen und Schülern die Chance eines religiösen Bildungsangebots.
Die heutige Entscheidung, die aktive Zusammenarbeit mit DITIB Hessen vollständig auszusetzen, zieht folgende Konsequenzen nach sich:
- Der laufende Schulversuch „Islamunterricht“ soll im neuen Schuljahr 2020/2021 auf die 62 Standorte, an denen derzeit DITIB-Hessen-Religionsunterricht erteilt wird, überführt werden. Der „Islamunterricht“ wird damit im Schuljahr 2020/2021 rund 3.300 Schülerinnen und Schülern in den Jahrgangsstufen 1 bis 8 angeboten. Neue Standorte sind ebenfalls möglich. Dafür gibt es rechtzeitig Eltern-Informationsveranstaltungen. Ziel ist, dass alle Schülerinnen und Schüler, die bisher am DITIB-Hessen-Religionsunterricht teilgenommen haben, auch den „Islamunterricht“ besuchen können. Unabhängig davon können auch andere Schülerinnen und Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, statt des Ethikunterrichts den „Islamunterricht“ besuchen.
- Die Überführung des im August 2019 begonnenen Schulversuchs zum Islamunterricht in ein reguläres Schulfach ist allerdings erst dann möglich, wenn alle schulfachlichen und schulrechtlichen Grundlagen dafür geschaffen worden sind. Dazu müssen insbesondere die bereits erarbeiteten Entwürfe der vier Kerncurricula – Primarstufe und Sekundarstufe I – erprobt, evaluiert und für rechtsverbindlich erklärt werden. Bis dahin wird der Schulversuch weiterlaufen.
- Die bisher im DITIB-Hessen-Religionsunterricht eingesetzten staatlichen Lehrkräfte erhalten mit Beginn des neuen Schuljahrs das Angebot, berufsbegleitend Fortbildungsveranstaltungen mit dem Ziel zu besuchen, den „Islamunterricht“ regulär erteilen zu dürfen.
- Lehrkräfte, die derzeit in den Studienseminaren ihren Vorbereitungsdienst mit dem Ziel absolvieren, unter anderem den bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht in Kooperation mit DITIB Hessen zu erteilen, können ihr Referendariat beenden und nach entsprechender Fortbildung im „Islamunterricht“ eingesetzt werden.
- Die Lehramtsstudiengänge an der Justus-Liebig-Universität in Gießen (Lehramt an Grundschulen) und an der Goethe-Universität in Frankfurt (Lehramt an Haupt- und Realschulen) werden so ausgerichtet, dass sie auch das künftige Fach Islamunterricht einschließen. Dazu ist eine Anpassung der Studienordnungen notwendig.
- Studierende, die bereits ihr Studium der „Islamischen Religion“ aufgenommen haben, erhalten ein Angebot zur Anerkennung der bisherigen Studienleistungen für das künftige Fach Islamunterricht.
„Wir glauben fest an die Notwendigkeit eines schulischen religiösen Bildungsangebotes für schulpflichtige Kinder und Jugendliche muslimischen Glaubens. Mit der heute mitgeteilten Entscheidung wird das Land auch weiterhin seiner Verantwortung dafür gerecht werden. Unabhängig davon halten wir im Sinne der Gleichbehandlung der Religionen an der Überlegung fest, auch für Schülerinnen und Schüler muslimischen Glaubens bekenntnisorientierten Religionsunterricht zu schaffen – entsprechend beispielsweise dem evangelischen oder katholischen Religionsunterricht. In diese Überlegungen für die Zukunft werden wir auch Erfahrungen aus anderen Bundesländern einbeziehen“, erklärte Lorz abschließend.