Karlsruhe – Die geplante Ausstellung über die kritische Situation der Erde Critical Zones fällt durch die Corona-Krise in eine kritische Zeit. Eine neue Erdpolitik verlangt auch eine neue Ausstellungspolitik.
Die wachsende Ausstellung Critical Zones vor Ort wird daher mit einer digitalen Ausstellung verbunden und zu einem nicht-lokalen Ereignisfeld im realen und virtuellen Raum. Ab 22. Mai 2020 eröffnet die Ausstellung mit einem mehrtägigen Streaming-Festival – ein Programm von mehreren Tagen, das aus gestreamten Führungen durch den virtuellen Raum wie durch die reale Ausstellung und aus zugeschalteten Interviews und Vorträgen bestehen wird. Die Ausstellung wird zu einem „Echoraum“, zu einem Resonanzraum von symbiotischen Kommunikationsformen – eine Antwort auf den symbiotischen Planeten, der neue Modi der Kommunikation zwischen den Menschen verlangt.
Kritische Zonen
Der Globus prägt bisher unser Verhältnis zur Erde. Ein astronomischer Körper unter vielen, aufgeteilt in Längen- und Breitengrade, gesehen von einer unmöglichen Perspektive von außerhalb und in Distanz zu uns, ist das Bild, das unser Verhältnis zu unserer Lebenswelt als ein distanziertes, mechanisches und vor allem beherrschbares, beschreibt.
Die Ausstellung Critical Zones setzt bei einem Perspektivwechsel an, und fordert auf, einzusehen, dass wir uns nicht auf dem Globus, sondern innerhalb der „Kritischen Zone“, eingebettet in deren vielfältige, dynamische Prozesse, befinden. Der Begriff „Critical Zone“ ist aus den Geowissenschaften übernommen und ist definiert als „die durchlässige oberflächennahe Schicht der Erde – von den Wipfeln der Bäume bis zum Boden des Grundwassers“. Sie ist eine lebende, atmende, sich ständig weiterentwickelnde Grenzschicht, in der Gestein, Boden, Wasser, Luft und lebende Organismen interagieren“ , die fragile und hoch reaktive Membran, in der sich alles Leben entwickelt hat bzw. in der es die eigenen Bedingungen für sein Überleben geschaffen hat. Von Bruno Latour wird der Begriff ins Philosophische erweitert zu einem kritischen, teilnehmenden Verhältnis unserer selbst in unserer Lebenswelt, deren bedrohter Zustand in einer nun vom Menschen geprägten Erdgeschichte ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht hat.
„We must face up to what is literally a problem of dimension, scale, and lodging: the planet is much too narrow and limited for the globe of globalization; at the same time, it is too big, infinitely too large, too active, too complex, to remain within a narrow and limited borders of locality whatsoever.“ (Bruno Latour)
Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die Frage, welche Politik wir betreiben wollen, damit die Erde bewohnbar bleibt. Wir folgen hierbei Alexander von Humboldt, der Natur als „Alles in Wechselwirkung“ beschreibt, sowie den wissenschaftlichen Pionierleistungen von James Lovelock und Lynn Margulis, die gemeinsam die Gaia-Hypothese entwickelten. Insbesondere Lynn Margulis’ Forschung und ihre Theorie des symbiotischen Planeten sind hochaktuelle Anhaltspunkte, um über neue Formen des Zusammenlebens und der Politik einen gemeinsamen Grund zu schaffen.
“[…] all life forms have in common […] that they have made up their own laws. They don’t obey rules made elsewhere. The key discovery is that life forms don’t reside in space and time but that time and space is the result of their own entanglement.” (Bruno Latour)
Gemeinsam mit dem französischen Philosophen Bruno Latour richtet das ZKM – im Modus einer Gedankenausstellung – ein Observatorium ein, das im kleinen Maßstab die Vielfalt der Beziehungen des Lebens auf der Erde aufzeigt. Der Besucher wird dabei selbst zum Beobachter, sein Verhalten verändert die Ausstellung und die Ausstellung verändert sein Verhalten. Somit kann sein Verhalten auch die Welt verändern. Die Ausstellung dient uns dabei als ein lebendes Labor, um in einem transdisziplinären Miteinander von innovativen wissenschaftlichen und künstlerischen Positionen Wissenspotentiale und Handlungsoptionen für die Zukunft jenseits etablierter Vorstellungen und Konzepte von „Natur“ und „Ökologie“ zu entwickeln.
Von einer Gedankenausstellung zu einer wachsenden Gedankenplattform
Da aufgrund der Corona-Pandemie lokal gebundene Versammlungen von Menschen zu vermeiden sind, hat sich das ZKM entschlossen, den geschlossenen Raum des Museums zu erweitern und in den offenen Raum der Online-Kommunikation einzutreten. Dabei wird der physische Raum nicht verlassen, vielmehr wird die Ausstellung Critical Zones ab dem 22. Mai in den Lichthöfen des ZKM nach Maßgabe der politischen-medizinischen Verhältnisse realiter wachsen – als Prozess, als Vermehrung. Die Ausstellung wird sich verändern, weil wöchentlich neue Werke, neue WissenschaftlerInnen, neue KünstlerInnen physisch anwesend sein werden. Diese „Ausstellung im Fluss“, die sich entlang der realen Ereignisse entwickelt, wird verbunden mit einer virtuellen Ausstellungsplattform – zahlreichen virtuellen Aktivitäten und Streaming-Angeboten im Netz – die ebenfalls permanent wachsen wird. Damit ist Critical Zones – entgegen einer üblichen Ausstellungskonzeption – ein im Wachstum begriffenes Ereignisfeld: Die zeitlichen Gewohnheiten des analogen Raumes werden überwunden, um anyone-anytime-anywhere Möglichkeiten des Aufenthalts, der Konfrontation und der Auseinandersetzung in der Infosphäre der Ausstellung zu bieten.
„Als Museum weichen wir daher von der Strategie ab, eine Ausstellung für ein lokal anwesendes Publikum zu inszenieren, das auf der Basis physischer Mobilität entsteht. Die Ausstellung wendet sich an ein Publikum, das dezentral und nicht-lokal verteilt ist – auf der Basis der immateriellen Mobilität von Zeichen, also qua Telekommunikation. Die schon seit Jahrzehnten vorhandenen digitalen Ferntechnologien wie Personal Computer (80-er Jahre) und Internet (90-er Jahre) werden optimal genutzt, um neue Erkenntnis- und Erlebnisformen zu erzeugen.“ (Peter Weibel)
Damit reagiert das ZKM auf die jetzige kritische Situation und auf die kritische Lage insgesamt.
„Die Aufforderung, Abstand zu halten und Nähe zu vermeiden, Social Distancing zu wahren, erklärt ja das Ende der Nahgesellschaft, und verweist auf die Telekommunikation, auf die Fernkommunikation mit Ferntechnologie. (griechisch: tele-). Wir leben schon lange in der telekommunikativen Gesellschaft, von Talkshows bis Sportereignissen. Es ist Zeit, dass wir ein neues Publikum und eine neue öffentliche Sphäre, neue res publica, schaffen: Nicht die physische, an einen Ort gebundenen Masse, sondern die vielen, an vielen Orten situierten Individuen sind unsere Adressaten.“ (Peter Weibel)
Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte besteht nun – aufgrund der aktuellen Situation – die Chance, sich zunehmend auf das Konzept einer Ferngesellschaft einzustellen. In einer Situation, in der BewohnerInnen sich nur virtuell und nicht real begegnen und deren Begegnungen mit den Kunstwerken sich nicht nur im physischen, sondern auch im virtuellen Raum ereignen. Wie funktionieren nun Gemeinschaft, Austausch und Begegnungen? Das ZKM möchte das virtuelle Ereignisfeld von Critical Zones als Chance nutzen, um partizipative Aktivitäten gemeinsam mit lokalen Initiativen und dem Publikum in neue Horizonte auszudehnen. Das Aktivierungsprogramm der Ausstellung, bestehend aus Workshops, Exkursionen, Führungen, Dialogen, Performances und anderen Gedankenanstößen, kann nun neue Gestalten annehmen – online, live, gestreamt. So möchte Critical Zones als experimentelle Plattform für virtuelle Aktivitäten zu einer selbstmotivierten Auseinandersetzung einladen und neue Formen des Kollektiven erforschen.
„Die Erfahrungen, die das ZKM seit seiner webbasierten Ausstellung net_condition (1999) mit digitalen Technologien in 20 Jahren gemacht hat, tragen nun Früchte in der kritischen Situation der Corona-Pandemie. Dem politischen Imperativ zur Isolation begegnet das ZKM mit einer künstlerischen digitalen Initiative, mit einer programmatischen digitalen Extension. Die aktuellen Umstände führen dazu, dass wir uns aus den Gebäuden in den virtuellen Raum bewegen und in eine mehrdimensionale Kommunikation eintreten. Die Kunst zeigt in dieser Situation neue Modi und hilft, die Angst vor Verlusten der Nahgesellschaft zu nehmen.“ (Peter Weibel)