Irgendwie werde ich schon mein ganzes bisheriges Leben überwacht. Und das dauert schon mehr als ein halbes Jahrhundert. Jeglicher Versuch, mich der Überwachung zu entziehen, war zum Scheitern verurteilt.
Zuerst überwachten mich meine Eltern. Darüber kann man ja noch froh sein, wenn man nicht mal sprechen kann. Als in der DDR Geborener wachte später die Stasi darüber, dass ich keine staatsfeindlichen Dinge tat. Noch später wachte die Schufa darüber, dass ich mich nicht sinnlos mit geliehenem Geld eindecke. Natürlich habe ich immer versucht, mich diesen Überwachungen zu entziehen. Beispielsweise wollte ich der permanenten Überwachung durch die Stasi durch Umzug ins benachbarte Inland entgehen. Die Überwachung hält aber bis heute an. Zwar nicht mehr durch die Stasi, aber es ist ja auch egal wie der Verein heißt.
Das Leben ist ein Kampf zwischen Überwachenden und Überwachten
Wer als Deutscher in einem Online Casino spielt, wird seit 15. Oktober 2020 ebenfalls überwacht, und das ganz ohne Rechtsgrundlage. Dafür wäre ein gültiger Glücksspielstaatsvertrag vonnöten. Aber nach der Lektüre dieses Artikels würde vermutlich nicht einmal das ausreichen. Wie auch immer, gegen eine Sportwette oder ein paar Walzendrehungen am Spielautomaten ist nichts einzuwenden, wenn man nicht gleich Haus und Hof verspielt. Deutsche Spieler sammeln schon seit 1994 Erfahrungen mit seriösen Online Casinos und manchmal auch den anderen. 26 Jahre später herrscht weder für Glücksspielunternehmen noch für Spieler in Deutschland Rechtssicherheit. Seit 15.10.2020 wird von in Deutschland agierenden Online Casinos verlangt, ein automatisiertes System zur Erhebung von Daten über glücksspielgefährdete Spieler einzuführen, um Spieler auch von staatlicher Seite mit einer Sperre belegen zu können. Auf Wiedersehen mündiger deutscher Bürger.
Grenzenlose Geheimdienste
Dass die Überwachung durch die Stasi nicht nur auf dem Territorium der DDR stattfand, musste der 2010 verstorbene Fußballtrainer Jörg Berger am eigenen Leibe erfahren. Er entzog sich 1979 der Überwachung durch die Stasi durch seine Flucht in den Westen. Glaubte er jedenfalls. Die Überwachung wurde aber fortgesetzt und mündete sogar in einen Mordanschlag. Er überlebte nur knapp. Lutz Eigendorf und viele weitere bekannte und unbekannte Flüchtlinge sind weitere Beispiele dafür, dass man sich der Überwachung durch die Stasi selbst durch Verlassen der DDR nicht entziehen konnte. NSA, CIA, KGB, MI6, Mossad & Co handhaben das nicht anders. Fragen Sie Herrn Nawalny.
Die Schufa ist ein ganz spezieller Verein
Eingetragen, nicht gemeinnützig, aber sehr zum Nutzen der Privatwirtschaft. Knapp 800 Millionen Einzeldaten zu 66,4 Millionen natürlichen Personen und zu 5,2 Millionen Unternehmen. Wer wohl die etwa 15 Millionen unserer Gesamtbevölkerung sein mögen, zu denen keine Daten vorliegen? Richtig: die Kinder. Somit ist festzustellen: Jede geschäftsfähige und in Deutschland lebende Person ist bei der Schufa registriert. Jeder hat seinen ganz persönlichen Score-Wert. Wie dieser berechnet wird, hält die Schufa geheim. Klagen dagegen werden von den Gerichten regelmäßig abgeschmettert. Geschäftsgeheimnis.
Mehr Sicherheit durch Überwachung?
Der Überwachung durch irgendeine Organisation zu welchem Zweck auch immer kann sich also niemand entziehen. In der DDR hatte die Stasi das Monopol darauf. Heute treten an die Stelle der Stasi Organisationen wie Schufa, BND, BfV, NSA, BKA, Europol, Interpol und etliche weitere Vereine. Die Überwacher rechtfertigen ihre Überwachung mit mehr Sicherheit. Die Überwachten werfen den Überwachenden vor, Unsicherheitsszenarien wie den G20-Gipfel in Hamburg 2017 selbst inszeniert zu haben. Die ehemalige britische Premierministerin Theresa May gab dem Internet die Schuld für die Londoner Terroranschläge im selben Jahr. Und betonte gleich noch, dass die Menschenrechte im Zweifel für die Terrorbekämpfung eingeschränkt werden müssen. Die Posse um die Vorratsdatenspeicherung ist ebenfalls ein Beleg für den permanenten Kampf zwischen Überwachenden und Überwachten.
Alle Bereiche des Lebens erfordern ein Umdenken
Damit dieser Kampf nicht in einem unkontrollierbaren Chaos endet, muss die Frage beantwortet werden, wo wir im Zeitalter der Digitalisierung wirklich hinwollen. Wollen wir das Alte weiter aufrechterhalten? Oder wollen wir das Neue dazu nutzen, eine neue Gesellschaftsordnung aufzubauen? Dirk Helbing ist Professor für Computational Social Science am Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften der ETH Zürich. Die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich zählt zu den zehn besten Universitäten der Welt und gilt als die Denkfabrik für technologischen Fortschritt. Professor Helbing plädiert für eine Digitale Demokratie, ein sozio-ökologisches Finanzsystem und den demokratischen Kapitalismus. Diese Begriffe mit Inhalt zu füllen, sollte unser vorrangiges Anliegen sein.