Thilo Figaj berichtet über den Sitz der Familie Rohrheimer

Ein Zentrum jüdischen Lebens

Am Montag, den 10. November um 18 Uhr, lädt die Stadt Lorsch wieder zu einer Gedenkveranstaltung anlässlich der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 ein. Diese Gedächtnisstunde soll auch dazu genutzt werden, mehr über das einstige jüdische Leben in Lorsch bekannt zu machen.

Wo wohnten unsere ehemaligen Mitbürgerinnen und Mitbürger? Wie lebten sie? Wohin blieben sie? – In diesem Jahr steht die Hofreite in der ehemaligen Stiftstraße 17 im Blickpunkt. Thilo Figaj, der sich in den letzten Jahren zu einem geradezu leidenschaftlichen Rechercheur bezüglich der Lorscher Jüdinnen und Juden entwickelt hat, wird über das Haus, seine Besitzer und Bewohnerinnen berichten. Die Veranstaltung beginnt um 18 Uhr, der Treffpunkt ist in der Stiftstraße auf dem Gelände der Alten Feuerwehr. Im Folgenden berichtet Thilo Figaj über den Sitz der Familie Rohrheimer, die das ehemalige Haus in der Stiftstraße 17 besaß.

Die Wurzeln der Familie Rohrheimer lassen sich in Lorsch über neun Generationen zurückverfolgen. Sie war damit die älteste eingesessene jüdische Familie am Ort. Ihre Mitglieder lebten und arbeiteten hier in ununterbrochener Folge bis zum Jahr 1938.
 
Von einem Juden namens Sußmann, der erstmals 1685 in den Steuerurkunden der Gemeinde erscheint, geht die Linie über Löb ben Nathan. Er war auch eines der drei Lorscher Gründungsmitglieder (1739) der „Chevra Kadisha“ (Heiliger Wohltätigkeitsverein im Amte Starkenburg), der weit über Lorsch hinaus wirkte. Auf Löb ben Nathan folgte dessen Enkel Gerson ben Model. Dieser gab der Familie 1809 bei der verpflichtenden Nachnamensannahme für Juden den Namen Rohrheimer. Die Familie lebte damals bereits in der fünften Generation im Ort. Gerson Rohrheimer erwarb 1828 eine Hofreite in der „Hintergass“, wie dieser Teil der Stiftstraße damals genannt wurde. Bis zur Vertreibung der letzten Rohrheimers wurde die Stiftstraße 17 zum Stammsitz der Familie. Die Hintergasse war damals der Siedlungsschwerpunkt der Lorscher Juden.

In dieser Hofreite der Rohrheimers konzentrierte sich die Infrastruktur, ohne die das jüdische Gemeindeleben nicht organisiert werden konnte. Vor 1833 ist dort ein „Badehaus der Judengemeinde“ im Kataster vermerkt, daneben eine „Mehlstube“ (später Backhaus) sowie ein Schlachthaus. Gersons Enkel Leopold Rohrheimer baute diese Einrichtungen im Jahre 1885 aus. Das Ritualbad, die „Mikwe“, wurde damals allerdings abgebrochen, weil im Zusammenhang mit dem Bau der neuen, aus Steinen errichteten Synagoge in der Kirchstraße eine verbesserte Einrichtung geschaffen werden konnte. 

Der Sohn Leopold Rohrheimers, Eduard Rohrheimer (geb. 1880), erwarb ein weiteres Haus in der Rheinstraße und heiratete 1911 Jenny Lorch. Diese betrieb – später mit der 1912 geborenen Tochter Erna zusammen – ein Geschäft für Textil- und Wollwaren, das älteren Lorscherinnen und Lorschern noch in Erinnerung sein dürfte. 

Eduard Rohrheimer verließ Lorsch im September 1938 mit seiner Tochter Erna, nachdem sowohl seine Stiefmutter Emma (+ 1934) als auch seine Frau Jenny (+ 1937) verstorben waren. Vater und Tochter gingen in die Vereinigten Staaten. Für ihre beiden Häuser in der Stiftstraße und in der Rheinstraße sahen sie kaum etwas Geld. Das perfide System der NS-Ausbeutung ließ ihnen gerade genug für die Schiffsfahrkarte.1942 bestritt Eduard Rohrheimer, damals 68jährig, als  Hafenarbeiter in Philadelphia seinen Lebensunterhalt. In Lorsch wurde 1977 die alte Hofreite in der Stiftstraße 17 abgebrochen. Man schuf damit den Platz für den Erweiterungsbau der Feuerwehr.

Erna Rohrheimer war damit die letzte Vertreterin der Rohrheimers in neunter Generation in Lorsch. Sie heiratete 1940 in Philadelphia Kurt Meyer, einen aus Frankfurt stammenden Juden. Gemeinsam mit ihm stellte sie 1952 einen Restitutionsanspruch unter anderem gegen die Sparkasse, weil ihr letztes Haus 1938 aus nichtigem Grund zwangsvollstreckt worden war. Es ist nicht bekannt, ob neben einem Verwandten aus Biblis, Max Rohrheimer (1864-1942) auch Mitglieder des Lorscher Zweiges der Familie der Vernichtung im Osten zum Opfer gefallen sind. Aber auch so ist ihr Schicksal kennzeichnend für das Unrecht der Nazi-Zeit, die erlittenen Verfolgungen und die behördlich organisierte Beraubung bereits vor dem Novemberpogrom 1938 in Lorsch.

Infokasten

Die Gedenkfeier anlässlich der Novemberpogrome 1938 beginnt am 
Montag, 10. November um 18 Uhr in der Stiftstraße 17 (Gelände der Alten Feuerwehr). Von da aus geht man gemeinsam zu der Gedenkstätte in der Schulstraße. Die Veranstaltung dauert etwa eine Stunde.