Heidelberger Wissenschaftler entdeckt frühesten Beleg der heute gebräuchlichen lateinischen Schrift.
Bei Recherchen zu Schriftzeugnissen aus der Zeit Karls des Großen (gestorben 814) ist ein Wissenschaftler der Universität Heidelberg in einer Handschrift des Klosters Corbie auf den bislang frühesten Beleg der sogenannten karolingischen Minuskel gestoßen, auf der die heute gebräuchliche lateinische Schrift basiert. Viele Forscher vermuteten bislang, dass diese einflussreiche mittelalterliche Schriftart an der Hofschule Karls des Großen entstanden ist. Der Fund von Dr. Tino Licht belegt, dass diese These nicht länger aufrecht erhalten werden kann. Somit muss die karolingische Minuskel älter sein als bisher angenommen. Eine umfassende Dokumentation und Analyse findet sich in der aktuellen Ausgabe des „Mittellateinischen Jahrbuchs“.
Zweifel an der These zur Entstehung dieser mittelalterlichen Schriftart gab es bereits in früherer Zeit, so Tino Licht vom Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften der Ruperto Carola. So existiert eine Bibelabschrift in karolingischer Minuskel, die im Kloster Corbie im heutigen Frankreich angefertigt worden ist. Allerdings konnte das Entstehungsjahr dieser Handschrift aus dem 8. Jahrhundert bislang nicht exakt ermittelt werden – der Zeitraum, in dem die Bibel angefertigt wurde, überschneidet sich mit der Frühzeit der Hofschule Karls des Großen. Bei Recherchen zur Vorbereitung eines Projekts am Sonderforschungsbereich „Materiale Textkulturen“ der Universität Heidelberg stieß Dr. Licht auf eine weitere Handschrift aus dem Kloster Corbie, in der auf drei Seiten die karolingische Minuskel verwendet wird. Dieser Codex, der sich heute in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin befindet, ist nachweislich vor der Regierungszeit Karls des Großen entstanden.
„Die Verwendung der neuen Schrift wirkt wie ein Experiment. Sie wurde möglicherweise ausprobiert“, erklärt der Heidelberger Mittellateiner. „Im Mittelalter wurde eine Schrift nicht – wie heutzutage – kreiert, sondern musste sich in einer Schreibwerkstatt, einem lebendigen Skriptorium mit Tradition entwickeln. Corbie war im 8. Jahrhundert so etwas wie ein Laboratorium für neue Schriften.“ Gerade das spreche auch gegen das in vielen populärwissenschaftlichen Geschichtsbüchern verbreitete Bild, Karl der Große habe im Rahmen seiner kultur- und bildungspolitischen Aktivitäten die Entwicklung dieser Schriftart mehr oder weniger in Auftrag gegeben, um eine einheitliche, gut lesbare Schrift zu schaffen.
Für die Forschung, so Tino Licht, stellen sich mit seinem Fund neue Fragen: Wurde die karolingische Minuskel vom Hof des fränkischen Königs direkt von Corbie übernommen? Oder sind Hof und Corbie nicht sauber zu scheiden und die Schreibwerkstatt der Hofschule Karls des Großen war Corbie selbst? „Antworten auf diese Fragen der Schriftgeschichte erlauben uns auch neue Einblicke in die Kulturgeschichte dieser Zeit“, sagt der Heidelberger Wissenschaftler.