Frankfurt am Main – Wenn die EU-Kommission Informationen zum internationalen Arbeitsrecht braucht, ruft sie in Frankfurt an. Dort sitzt das European Labour Law Network (ELLN).
Bernd Waas, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Zivil- und Wirtschaftsrecht an der Goethe-Universität, ist Initiator und Koordinator des Netzwerks. Die Digitalisierung der Arbeitswelt und neue Beschäftigungsformen wie Crowdworking, der Internetarbeit, prägen die aktuelle Arbeit des ELLN.
Arbeitnehmer-Begriff ergründen
Dem vor rund zehn Jahren ins Leben gerufenen European Labour Network gehören derzeit 38 Wissenschaftler an. Jedes EU-Land ist mit einem Arbeitsrechtler vertreten, Juristen aus anderen Staaten Europas ergänzen den Kreis. Die Gründungsidee hatte der Frankfurter Jura-Professor Bernd Waas. Sein Ziel war: „Das Arbeitsrecht auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin zu untersuchen“. Zusammen mit den Kollegen aus den europäischen Ländern wollte er erforschen, wie die EU-Staaten den Begriff Arbeitnehmer definieren, die Informationen dazu sammeln und allen Interessenten zugänglich machen. „Den Horizont erweitern“, beschreibt Waas die Motivation zur vergleichenden Betrachtung des Arbeitsrechts. Die Beschäftigten ins Zentrum zu rücken, ist für den Jura-Professor der Frankfurter Goethe-Universität logisch: „Der Arbeitnehmerbegriff bildet die Basis des Arbeitsrechts“, dessen Normen sich erst in den vergangenen 100 Jahren herausgebildet haben.
EU-Netzwerk erstellen
Das Netzwerk bekam schnell einen guten Draht zur Europäischen Kommission. Sie interessierte sich erst einmal weniger für den wissenschaftlichen Ansatz, als vielmehr für die im ELLN gebündelte Kompetenz.
„Die Kommission wollte ein Netzwerk haben, das speziell Wissen für ihre Tagesarbeit zusammenträgt und ihr regelmäßig berichtet”, erinnert Waas. „Wir wurden geerdet“.
Das Gremium mutierte zum Dienstleister der Kommission, mit der – in den Augen der Wissenschaftler – „profanen Aufgabe zu berichten“. Die Aufgabe war ein Jahrzehnt lang klar: Regelmäßig Berichte zur Entwicklung des Arbeitsrechts in den einzelnen Mitgliedsstaaten abliefern. Das ELLN trug Informationen zu Gesetzesvorhaben, etwa dem Mindestlohn in Deutschland, und zu wichtigen Gerichtsurteilen zusammen, notierte rechtliche Anregungen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Der Überblick ging Monat für Monat nach Brüssel. Ohne Wirkung blieb er nicht: Manches Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen einen Mitgliedstaat geht auf die vom Netzwerk gelieferten Informationen und Bewertungen zurück.
Wandel erfassen
Das ursprüngliche Anliegen, dem Arbeitnehmerbegriff auf den Grund zu gehen, geriet durch die Tagesarbeit zunächst ins Hintertreffen. Das hat sich durch den rasanten Wandel der Arbeitswelt infolge der Digitalisierung geändert.
„Das Verhältnis Arbeitnehmer/Arbeitgeber ist wieder en vogue und damit unsere anfängliche Grundlagenarbeit“, freut sich der ELLN-Gründer.
Im Auftrag der Kommission erforscht das Netzwerk inzwischen, wie es die Mitgliedsstaaten zum Beispiel mit Teilzeitarbeit, Leiharbeit, Crowdworking, befristeten Arbeitsverhältnissen, aber auch Schwarzarbeit halten.
„Es gibt keine einheitlichen Begrifflichkeiten in Europa. Die EU-Richtlinien verweisen meist auf die Regelungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten“, umreißt Waas das Problem.
Arbeitnehmerrechte etablieren
Das aus seinem Büro auf dem Uni-Campus Westend gesteuerte ELLN erstellt nun seit 2015 eine Bestandsaufnahme der verschiedenen nationalen Arbeitnehmerrechte, klopft Inhalte, Umsetzung und politisch-soziales Umfeld ab – und ist damit zu den Wurzeln zurückgekehrt. Das Wissen um die Regelungen benötigt die EU, weil sie Arbeitnehmerrechte vor dem Hintergrund von Industrie 4.0, der vierten Industriellen Revolution – der Digitalisierung der Industrie – und der stetig wachsenden Zahl neuer Beschäftigungsformen europaweit harmonisieren will. Das Thema der digitalen Arbeitswelt scheint Brüssel mittlerweile so drängend, dass die EU die Ergebnisse der ELLN-Forschung am liebsten sofort auf dem Tisch hätte. Für Waas ist das Interesse eine späte Anerkennung. Denn als er die Digitalisierung und ihre Folgen vor einigen Jahren auf die Agenda der ELLN-Jahreskonferenz setzte, klang das manchen Fachleuten wie sehr ferne Zukunftsmusik. Aus Sicht des Frankfurter Jura-Professors sollten sich die Arbeitsrechtler jedoch schon aus eigenem Interesse Gedanken über die Konsequenzen des Wandels machen. Sollte es eines Tages keine Arbeitnehmer mehr geben, dürften auch Arbeitsrechtler überflüssig werden.
Er persönlich mache „ein bisschen viel Arbeitsrecht“, gibt Waas zu. Neben seiner Tätigkeit an der Uni und als ELLN-Koordinator gehört er dem Sachverständigen-Ausschuss der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen, in Genf an. Das Gremium wacht darüber, dass die ILO-Übereinkommen weltweit eingehalten werden und überprüft, ob arbeitsrechtliche Regelungen der einzelnen Nationen dem Völkerrecht entsprechen. Zu Waas „internationalem Zirkus“ gehören außerdem Beratertätigkeiten in Südafrika, Japan und China. Zuhause ist der globale Jurist in der Nähe von Bonn. Dort spielt die Familie die Hauptrolle.
Weitere Informationen unter: www.labourlawnetwork.eu