Heidelberg – Mit einem europaweit einmaligen Operationsverfahren hat ein interdisziplinäres Team aus Perinatalmedizinern und Neurochirurgen am Universitätsklinikum Heidelberg ein ungeborenes Kind noch im Mutterleib am offenen Rücken (Spina bifida aperta) operiert. Weitere elf Wochen konnte sich das Kind im Bauch seiner Mutter entwickeln, bevor es am Dienstag, 9. August 2016, per Kaiserschnitt zur Welt kam.
„Für den Eingriff während der Schwangerschaft haben wir die Gebärmutter ähnlich einem Kaiserschnitt eröffnet. Das Kind wurde vorsichtig ein Stück herausgehoben und blieb dabei mit der Nabelschnur verbunden“,
erklärt Professor Dr. Christof Sohn, Ärztlicher Direktor der Universitäts-Frauenklinik Heidelberg.
„Während der Operation wurden Rückenmark, harte Hirnhaut und Haut Schicht für Schicht verschlossen. So haben wir dem Baby den bestmöglichen Start ins Leben ermöglicht: das Risiko für einen Wasserkopf wurde reduziert und schwere Schäden am Rückenmark konnten weitgehend verhindert werden“,
sagt Professor Dr. Andreas Unterberg, Geschäftsführender Direktor der Neurochirurgischen Universitätsklinik Heidelberg. Die vor dem Eingriff im Ultraschall erkennbaren deutlichen Veränderungen am Gehirn des Kindes hatten sich noch während der Schwangerschaft zurückgebildet.
„Das ist ein riesiger Erfolg, der nur durch intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit möglich war“,
betont Professor Sohn.
Bislang wurden Kinder mit offenem Rücken erst nach der Geburt operiert, doch das Fruchtwasser schädigt das offen liegende, ungeschützte Rückenmark irreparabel.
„Die Studienergebnisse aus den USA belegen eindrucksvoll den großen Vorteil einer offenen fetalchirurgischen Operation der Spina bifida“,
sagt die Kinder-Neurochirurgin Privatdozentin Dr. Heidi Bächli, die das Kind am Rücken operiert hat.
„Die Kinder leiden seltener an einem Wasserkopf, das Kleinhirn verlagert sich weniger stark in den Wirbelkanal und das Ausmaß der Lähmungen kann deutlich reduziert werden.“
Das Heidelberger Team kooperiert mit einem der weltweit größten fetalchirurgischen Zentren in den USA, dem St. Louis Fetal Care Institute, das bereits seit einigen Jahren erfolgreich mit diesem Verfahren behandelt. Die Expertise hierzu hatte das interdisziplinäre Heidelberger Team bestehend aus Gynäkologen, Neurochirurgen, Anästhesisten und Neonatologen in St. Louis erworben, die Kollegen aus den USA standen den Heidelbergern bei ihrem ersten Eingriff beratend zur Seite.
Empfindliches Rückenmarks- und Nervengewebe Schicht für Schicht verschlossen
Für den Eingriff eröffneten die Gynäkologen um Professor Sohn die Gebärmutter mit einem acht Zentimeter langen Schnitt. Das Kind wurde vorsichtig so gedreht, dass der offene Rücken gut zugänglich war, und erhielt eine separate Narkose. Während Neurochirurgin Dr. Bächli operierte, überwachten Anästhesisten die Mutter und die operierenden Geburtshelfer das Kind. Die Neonatologen standen bereit, um bei Bedarf eingreifen zu können. Austretendes Fruchtwasser wurde während des Eingriffs kontinuierlich ersetzt.
„Da die Schwangerschaft fortgesetzt werden sollte, mussten Eihäute und Gebärmutter nach dem Eingriff sorgfältig verschlossen werden – eine erhebliche technische Herausforderung für den Operateur“,
erklärt Professor Sohn. Nach dem Verschluss der Gebärmutter trat kein weiteres Fruchtwasser mehr aus. Die Wunden bei Mutter und Kind heilten komplikationslos und stellten sich auch nach dem Kaiserschnitt als sehr gut verheilt dar.
Der als Spina bifida aperta bezeichnete Defekt entsteht zwischen dem 20. und 28. Tag in der Schwangerschaft, wenn sich die Wirbelkörper sowie häufig auch die Häute, die das Rückenmark umgeben, nicht verschließen. Je nach Ausmaß und Lage des Defektes sind die betroffenen Kinder später in ihrer Motorik stark beeinträchtigt und entwickeln häufig einen sogenannten Wasserkopf, bei dem sich Hirnwasser innerhalb des Schädels ansammelt. Eine schwere und häufige Form der Spina bifida, an der auch das nun in Heidelberg operierte Kind litt, ist die Meningomyelozele: Durch einen Spalt in der Wirbelsäule drückt sich Rückenmarksgewebe mitsamt Nervenfasern in einer Blase nach außen. Bei dem in Heidelberg operierten Kind erstreckte sich diese Blase über ca. 3,5 Zentimeter Länge an der Lendenwirbelsäule, durch die Druckveränderung im offenen Rückenmark waren Teile des Kleinhirns in den Wirbelkanal verlagert.
Interdisziplinäre Beratung am Universitätsklinikum Heidelberg
Vor dem Eingriff beraten Gynäkologen, Neonatologen, Kinder-Neurochirurgen und Anästhesisten umfassend und ergebnisoffen. Bei der Operation selbst wird jeder Schritt von dem jeweils zuständigen Experten vorgenommen, den Eingriff am kindlichen Rückenmark nehmen ausschließlich erfahrene Kinder-Neurochirurgen vor. In der Nachsorge sind noch weitere Disziplinen mit an Bord: Neuropädiater, Kinder-Neurochirurgen, Urologen und Nephrologen, Orthopäden, Kinderchirurgen, Physiotherapeuten und Sozialarbeiter kontrollieren gemeinsam die weitere Entwicklung des Kindes über die nächsten Jahre, um nötige Therapien und Hilfeleistungen frühzeitig in die Wege leiten zu können.
MOMS-Trial – amerikanische Studie belegt Erfolg und Nutzen des OP-Verfahrens
Es gibt einige wenige Arbeitsgruppen, die die Operation im Mutterleib endoskopisch versuchen. Das Heidelberger Team hat sich jedoch aufgrund der internationalen Datenlage für den offenen Zugang entschieden. Eine US-amerikanischen Studie, der „MOMS-Trial“ (Management of Myelomeningocele Study), prüfte von 2003 bis 2010 den Nutzen der offenen Fetalchirurgie bei Spina bifida aperta. Die betroffenen Kinder wurden zufällig einer von zwei Gruppen zugeteilt: Die einen wurden schon im Mutterleib operiert, die anderen erst nach der Geburt, wie bis dato üblich. Die Studie wurde vorzeitig abgebrochen, weil die Vorteile der vorgeburtlich operierten Kinder so groß waren, dass eine zufällige Zuteilung nicht mehr vertretbar war.
Die im Mutterleib operierten Kinder konnten sich besser bewegen, liefen später auch besser und waren selbständiger. Während mehr als 80 Prozent der nach der Geburt behandelten Kinder einen Wasserkopf entwickelten (Hydrocephalus) und bei ihnen dauerhaft überschüssiges Hirnwasser über einen sogenannten Shunt in die Bauchhöhle abgeleitet werden musste, war dies nur bei rund 40 Prozent der intrauterin operierten Kinder der Fall. Die Kinder des MOMS-Trials werden noch bis zu ihrem neunten Lebensjahr begleitet und ihre Entwicklung erfasst.