Mainz – Die Beschäftigung mit Schamanismus und die Ausübung schamanischer Praktiken werden häufig als Esoterik und Aberglaube abgetan.
Wie eine ethnographische Feldstudie zeigt, handelt es sich bei dem Gegenwartsschamanismus jedoch vielmehr um eine Kulturtechnik, die therapeutische Funktionen mit alternativen Sinnentwürfen oder Weltsichten verknüpft.
„Menschen, die sich heute dem Schamanismus zuwenden, suchen meistens nicht nur Gesundheit im biomedizinischen Sinn, sondern im Sinne von heil oder ganz werden“,
sagt Prof. Dr. Mirko Uhlig vom Fach Kulturanthropologie/Volkskunde der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Er hat über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren schamanisch Praktizierende in der Eifel interviewt, begleitet, selbst an Ritualen teilgenommen und die Erfahrungen und Ergebnisse in einem Buch veröffentlicht. Die Realität ist demnach komplexer und teilweise auch widersprüchlicher als gemeinhin gedacht, wie die Biographien der von Uhlig porträtierten Menschen zeigen.
Die Teilnehmer an schamanischen Praktiken, wozu hauptsächlich das sogenannte Schwitzhüttenritual und die „schamanische Reise“ gehören, vertreten ganz eigene Weltsichten und Gewohnheiten. Viele verbindet die Erfahrung einer prekären Lebenslage, sei es eine schwere Krankheit, ein Problem im Beruf oder mit dem Partner, weshalb sie sich die Sinnfrage stellen und neue Erfahrungen oder Hilfe suchen.
„Die Hinwendung zum Schamanismus ist oft der Versuch, eine Art Ordnung zu schaffen und einen Sinnentwurf zu finden, der den Menschen auch wieder stärker mit der Natur verbindet“,
so Uhlig. Die Männer und Frauen, die sich dieser Praxis gleichermaßen zuwenden, sind dabei keineswegs esoterisch abgehoben. Viele sind katholisch sozialisiert, der Kirche als Institution gegenüber kritisch eingestellt, ohne aber areligiös zu sein.
Auch wenn die Rituale meist in naturnaher Umgebung ausgeübt werden, handelt es sich bei dem Gegenwartsschamanismus nicht um ein ausgesprochen ländliches Phänomen. Nicht wenige der von Uhlig interviewten Akteure stammen ursprünglich aus dem urbanen Raum, beispielsweise Köln, und haben vor ihrem Umzug in die Eifel dort in den 1980er Jahren erste Erfahrungen mit alternativen spirituellen Vorstellungen und Handlungsweisen gemacht. Die Nähe zu Köln und Aachen führt auch viele Städter in die Nordeifel, um an schamanischen Ritualen teilzunehmen. Dass die alternative Heilerszene aber gerade in der Eifel blüht, hat nach Einschätzung von Uhlig vielleicht auch damit zu tun, dass die psychotherapeutische Versorgung in ländlichen Gebieten äußerst gering ist. Das untersuchte Phänomen, so der Volkskundler, könne daher auch als eine Art Hilfe zur Selbsthilfe verstanden werden.
Aber nicht nur die Behandlung von Krankheiten und die Bewältigung problematischer Lebenssituationen sind Antriebsfedern für die Wahl eines schamanischen oder alternativmedizinischen Angebots. Manche Besucher nehmen zur Prävention von Krankheiten an Wochenendveranstaltungen teil.
„In diesem Kontext können wir den Gegenwartsschamanismus in der Eifel als Entschleunigungsoase und den bewussten Rückzug als eine Reaktion auf gegenwärtige gesellschaftliche Zustände der Beschleunigung deuten“,
merkt Uhlig zu den Ergebnissen seiner Feldstudie an.