Mannheim – Mannheimer Wissenschaftler haben untersucht, ob Bundesverfassungsrichter im Sinne der Parteien entscheiden, von denen sie nominiert wurden. Eine parteiliche Prägung lässt sich belegen, wird aber häufig überschätzt.
Bundesverfassungsrichter werden von den politischen Parteien nominiert und je zur Hälfte von Bundesrat und Bundestag gewählt. Daher unterstellt man ihnen oftmals eine gewisse parteipolitische Prägung. Und diese Parteinähe, so eine weit verbreitete Ansicht, spiegle sich auch in den richterlichen Entscheidungen. Als Beleg dafür werden meist Einzelfälle angeführt. Empirische Untersuchungen gab es dazu bislang allerdings nicht. Wie parteinah sind Deutschlands höchste Richter also wirklich?
Ein Forscherteam der Universität Mannheim, bestehend aus den Politikwissenschaftlern Benjamin G. Engst, Thomas Gschwend, Sebastian Sternberg und Caroline Wittig sowie dem Juristen Nils Schaks, hat das Entscheidungsverhalten der Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts systematisch ausgewertet. „Wir gingen vor der Untersuchung davon aus, dass wir beim Verhalten eine klare Gruppenbildung einerseits von SPD- und andererseits von unionsnahen Richtern beobachten können müssten. Wenn diese Annahme falsch ist, dann dürften keine klaren Gruppen entlang der Parteigrenzen erkennbar sein“, erklärt Professor Thomas Gschwend, Ph.D., die Ausgangslage. Der Politikwissenschaftler erforscht und lehrt an der Universität Mannheim quantitative sozialwissenschaftliche Methoden. „Methodisch war das eine Herausforderung. Denn man weiß zwar, welche Richterin oder welcher Richter von welcher Partei nominiert wurde. Aber in der Regel wird nicht öffentlich bekannt, wer wie abstimmt“, so Gschwend.
Mit seinen Kollegen hat er daher diejenigen Entscheidungen des Senats unter die Lupe genommen, bei denen sich mindestens ein Richter namentlich von der Entscheidung der anderen abgrenzte und ein sogenanntes Sondervotum abgab. Auch wurden einige wenige sogenannte 4:4-Entscheidungen, bei denen die acht Mitglieder des Senats keine mehrheitliche Entscheidung treffen konnten, in die Untersuchung einbezogen. Im untersuchten Zeitraum von zehneinhalb Jahren – zwischen 2005 und 2016 – waren es 20 Entscheidungen, bei denen sich Richter des Zweiten Senats namentlich positionierten. Anhand dieser 20 Fälle haben die Wissenschaftler ermittelt, ob sich Richter in ihrem namentlichen Abstimmungsverhalten ähneln. „Wir haben Ähnlichkeitswerte der einzelnen Richter gebildet. Ähnlich waren für uns zwei Richter in ihrem Abstimmungsverhalten zum Beispiel dann, wenn sie ein gemeinsames Sondervotum abgegeben haben. Aber auch alle Richter, die sich einem Sondervotum nicht anschlossen, haben wir als untereinander ähnlich bewertet und so weiter“, erläutert Thomas Gschwend.
Richter lassen sich auf „politischer Landkarte“ verorten
Mit den so gewonnenen Daten konnten die Wissenschaftler nicht nur die Kooperationen und Netzwerke der Richter untereinander ermitteln. Das Forscherteam konnte auch eine Art Landkarte anfertigen, auf der die einzelnen Richter ihrem Entscheidungsverhalten entsprechend verortet wurden. Manche Richter sind auf dieser Karte dicht beisammen, andere relativ weit voneinander entfernt. Und: Die Positionen der Richter scheinen zumindest ansatzweise die politische Links-Rechts-Dimension zu reflektieren. „Die von der Union nominierten Richter konnten wir mehrheitlich, aber nicht ausnahmslos, rechts der von der SPD vorgeschlagenen Kollegen verorten. Und Richter, die sich auf unserer Karte besonders nahe stehen, waren mehrheitlich, aber ebenfalls nicht ausnahmslos, von derselben Partei nominiert“ erklärt Gschwend. Da sich die Zusammensetzung des Senats im Untersuchungszeitraum änderte, haben die Wissenschaftler die Karte ein zweites Mal angefertigt: Einige Richter wechselten, die Ergebnisse aber blieben ähnlich.
Das Entscheidungsverhalten der Richter des Zweiten Senats sei im Untersuchungszeitraum also nicht völlig unabhängig von Parteilinien gewesen, schlussfolgern die Forscher in ihrer Untersuchung. Doch wie ist dieser Befund aus politikwissenschaftlicher Sicht zu bewerten? Thomas Gschwend: „Ein gewisses Maß an parteilicher Prägung ist nicht überraschend und macht auch Sinn. Schließlich geht es bei verfassungsrechtlichen Fragen nicht immer nur um richtig oder falsch, sondern auch um eine politische oder weltanschauliche Bewertung der zugrunde liegenden Rahmenbedingungen in einer sich ändernden Gesellschaft. Auch Gewissensfragen können eine Rolle spielen – und da kann man es als durchaus wünschenswert betrachten, dass im Verfassungsgericht unterschiedliche Strömungen vertreten sind, da seine Entscheidungen von großer Tragweite sind.“
Bundesverfassungsrichter sind keine Parteisoldaten
Dass diese Strömungen nicht immer losgelöst seien von parteipolitischen Positionen, liege in der Natur der Sache, so der Politikwissenschaftler weiter. „Wichtig ist im Sinne der richterlichen Unabhängigkeit, dass Parteinähe bei der Entscheidungsfindung nicht alle anderen Widersprüche und Gemeinsamkeiten überlagert. Und dafür haben wir keine Belege gefunden. Würden die Richter stets auf Linie der Partei abstimmen, die sie vorgeschlagen hat, dann hätten wir mit unseren Methoden eine viel eindeutigere Lagerbildung messen können. Unseren Befunden nach entscheiden die Richter aber über Parteigrenzen hinweg relativ ähnlich. Sie kooperieren miteinander und das teilweise sogar stärker mit Kollegen, die von einer anderen Partei nominiert wurden als sie selbst. Das ist ein Beleg dafür, dass Bundesverfassungsrichter sachlich und unabhängig entscheiden und sich nicht allein von einer unter Umständen durchaus vorhandenen Parteinähe lenken lassen.“
Ehemaliger Verfassungsrichter Landau: nicht so parteinah wie sein Ruf
Neben den nominierenden Parteien messen die Wissenschaftler auch anderen Faktoren einen Einfluss auf das Abstimmungsverhalten der Richter bei. Hierzu zähle etwa der persönliche soziale und berufliche Hintergrund sowie das Dienstalter und die Stellung innerhalb des Senats. Dass Bundesverfassungsrichtern in der Öffentlichkeit mitunter leichtfertig eine starke parteipolitische Prägung nachgesagt wird, zeigt nach Aussage der Mannheimer Forscher das Beispiel des mittlerweile nicht mehr amtierenden Herbert Landau. „Unsere Ergebnisse belegen, dass Herbert Landaus Entscheidungsverhalten nicht in dem Maße pauschalisiert werden kann, wie es die mediale Berichterstattung zu seiner Amtszeit teilweise getan hat“, betont Thomas Gschwend.
Die Studie der Wissenschaftler ist ein Ergebnis des von der Deutschen-Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützten Projekts „Das Bundesverfassungsgericht als Vetospieler“, das am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) der Universität Mannheim durchgeführt wurde. Publiziert wurde die Studie unter dem Titel „Zum Einfluss der Parteinähe auf das Abstimmungsverhalten der Bundesverfassungsrichter – eine quantitative Untersuchung“ in der „JuristenZeitung“.