Kaiserslautern – Menschliche Zellen sind diploid, sie enthalten zwei Chromosomensätze. Fehlt ein Chromosom im doppelten Satz, sind Zellen in der Regel nicht lebensfähig.
Warum dies so ist, war lange Zeit unbekannt. Hier setzten Forschende der Technischen Universität Kaiserslautern (TUK) an und haben im Verbund mit dem European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Heidelberg und der Fachhochschule Koblenz untersucht, welche Auswirkungen die reduzierte Chromosomenzahl in Körperzellen nach sich ziehen. Dabei ist erstmals gelungen, einen Versuchsansatz mit lebensfähigen monosomatischen Zellen zu realisieren. Die Fachzeitschrift Nature Communications hat die grundlegenden Erkenntnisse veröffentlicht.
Monosomie entsteht, wenn bei der routinemäßigen Zellteilung die Chromosomen falsch verteilt werden und in Zellen nachfolgend ein Chromosom im ansonsten doppelten bzw. diploiden Satz (2×22 plus 2 Geschlechtschromosome XX oder XY) fehlt. Die einzige Form dieser Abweichung in der Chromosomenzahl (Aneuploidie), die menschliche Zellen überleben können, ist als Turner-Syndrom bekannt. Kennzeichen der Erbkrankheit, die bei Frauen auftritt: Es ist nur eines der beiden X-Chromosomen vorhanden.
„Was sich in menschlichen Körperzellen abspielt, denen ein anderes Chromosom fehlt, war bislang jedoch nicht erforscht, weil monosomatische Zellen in der Regel nicht lebensfähig bzw. instabil sind“,
erklärt Prof. Dr. Zuzana Storchova, die die Forschungsarbeit initiiert hat.
Dr. Narendra Kumar Chunduri, Erstautor der Studie, berichtet:
„Wenn Monosomie auftritt, sorgt das Protein ‚p53‘, codiert vom sogenannten Tumorsuppresor-Gen TP53, dafür, dass der Zellzyklus stoppt. Sprich, die Zellen hören auf sich zu teilen; unkontrolliertes Wachstum wird verhindert. Dieses Gen haben wir in einem Teil unserer Zelllinien, die ursprünglich aus Zelllinien menschlicher Netzhaut abstammten, komplett ausgeschaltet, um die Produktion des kodierten Proteins herunterzufahren. So ist es erstmals gelungen, stabile monosomatische Zelllinien für Forschungszwecke zu generieren.“
Im Fokus des Forschungsteams standen nachfolgend die Auswirkungen der Monosomie auf die Proliferation (Zellwachstum/-vermehrung), die genomische Stabilität und die Art und Weise, wie der Chromosomenverlust die Gesamtheit an mRNA und Proteinen (das Transkriptom bzw. Proteom) beeinflusst.
„Auffallend war“, so Chunduri, „dass wir in allen monosomischen Zelllinien eine geringere Menge an zytoplasmatischen ribosomalen Proteinen und eine verringerte Proteinsynthese beobachten konnten. Wir vermuten demnach, dass der Chromosomenverlust die ribosomale Biogenese und dadurch die zelluläre Proliferation beeinträchtigt. Nachfolgend konnten wir zeigen, dass diese Veränderungen über den p53-Signalweg einen Zellzyklusstopp und/oder Seneszenz auslösen.“
Monosomie und Krebs
Die Erkenntnisse geben auch Aufschluss über den Zusammenhang von Krebserkrankungen und Monosomie. Wiederkehrende Verluste eines ganzen Chromosoms oder eines Chromosomenarms sind bei bestimmten Tumoren häufig, wie z. B. beim Neuroblastom, bei Lungenkrebs oder myeloischen Malignomen. Chunduri erläutert: „Da monosomische Zellen nur ohne p53 lebensfähig sind, war unsere Theorie, dass der p53-Signalweg bei Krebsarten, die durch Monosomien gekennzeichnet sind, defekt ist. Die Analyse von wissenschaftlichen Datenbanken zu krebsbedingten Veränderungen wie ‚The Cancer Genome Atlas (TCGA)‘ und ‚Cancer Cell Lines Encyclopedia (CCLE)‘ ergab tatsächlich eine starke Assoziation von Monosomie mit p53-Inaktivierung und Beeinträchtigung des ribosomalen Signalwegs“, so der Molekularbiologe. Dass diese Analysearbeit erfolgreich durchgeführt werden konnte, ist nicht zuletzt der Expertise Xiaoxiao Zhang und Prof. Maik Kschischo, beide Biomathematiker, von der Fachhochschule Koblenz zu verdanken.
Auftreten von Gendosierungseffekten
Des Weiteren hat das Forschungsteam auch eine systematische Transkriptom- und Proteomanalyse von monosomischen Zelllinien im Vergleich zu ihren elterlichen, diploiden Zelllinien durchgeführt – sprich, die Gesamtheit aller anhand der DNA transkribierten messenger RNAs (mRNAs) ebenso wie die Gesamtheit der Proteine in den Zellen erfasst. Diese ergab erwartungsgemäß, dass die Expression der auf dem Monosom lokalisierten Gene reduziert ist. Bioinformatiker Paul Menges ergänzt: „Aber die niedrigeren Werte beobachteten wir nur bei 20 Prozent der kodierten Proteine. Wir vermuten, dass hier Gendosierungseffekte ins Spiel kamen. Die Zellen brauchen ihren natürlichen, diploiden Zustand der Protein-Konzentration für optimale Funktion und müssen den Chromosomenverlust kompensieren. Wir stellen uns zwei mögliche Szenarien vor: Erstens könnte die Translation von mRNAs, die anhand der Gene kodiert werden, selektiv erhöht werden, oder zweitens wird der Proteinabbau reduziert. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Zellen mehrere Wege nutzen, um die Folgen der veränderten Genexpression abzumildern.“
Storchova fasst abschließend zusammen:
„Alles in allem präsentieren wir in unserer Forschungsarbeit erstmals einen erfolgreichen Versuchsansatz, um die Effekte von Monosomie in menschlichen Körperzellen zu untersuchen. Dabei konnten wir an unser Wissen um aneuploide Zellen anknüpfen, welches wir in früheren Studien gewonnen haben. An diese grundlegenden Erkenntnisse werden wir nun in weiteren Forschungsarbeiten anknüpfen, um den Beitrag von Monosomie bei der Entstehung von Krebs besser zu verstehen.“