Mannheim: 71. Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg: Das komplette Programm 2022

Foto: IFFMH – Filmfestival Mannheim gGmbH
Foto: IFFMH – Filmfestival Mannheim gGmbH

Mannheim. Mit einem in jeder Hinsicht aufregend diversen Programm geht das traditionsreiche Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg (IFFMH) am 17. November in seine 71. Ausgabe. Insgesamt werden über 60 Filme aus mehr als 40 Ländern zu sehen sein. Der historische Bogen reicht genau 100 Jahre zurück bis ins Jahr 1922.

Der internationale Wettbewerb ON THE RISE

Im Internationalen Wettbewerb ON THE RISE zeigt das IFFMH 2022 ausschließlich Erst- und Zweitwerke. In diesem Jahr sind genau 50 Prozent der Filme Debüts. Nahezu die Hälfte der Filme im Wettbewerb stammt von Frauen. Geografisch deckt die Bandbreite alle bewohnten Kontinente ab und reicht von Costa Rica über Tunesien und den Sudan bis nach Südkorea und Australien. Sämtliche Filme im Wettbewerb des IFFMH sind Deutschlandpremieren.

Zum Programmschluss konnte die Reihe herausragender Wettbewerbsfilme internationaler Regietalente durch folgende Werke vervollständigt werden: Den portugiesischen Beitrag ›Wolf and Dog‹, ein gleichermaßen emotionsgeladenes wie bildgewaltiges Debüt. Regisseurin, Kamerafrau und Fotografin Cláudia Varejão erzählt darin von einer Azoreninsel, die zum Gefängnis für ihre queeren Bewohner*innen zu werden droht. Mühelos verschränkt sie dabei dokumentarische und fiktionale Elemente zu einem leidenschaftlichen Liebesfilm.

›A Tale of Shemroon‹ des iranischen Regietalents Emad Aleebrahim Dehkordi handelt von einer Liebe ganz anderer Art. Es geht um ein ebenso gegensätzliches wie innig verbundenes Brüderpaar. Zugleich wirft der Film einen im iranischen Kino seltenen Blick auf die von Exzessen und Drogen geprägte Welt neureicher junger Erwachsener im Norden Teherans. Mit großer Virtuosität und Finesse steigert Regisseur Dehkordi allmählich die Spannung. Nach und nach zieht sich um den Hals eines der Brüder eine Schlinge aus Abhängigkeiten, familiären Konflikten und lange angestauten Aggressionen.

Junge Menschen stehen auch im Zentrum von ›The Maiden‹ – allerdings am anderen Ende der Welt, in Kanada. Regisseur Graham Foy gelingt mit seinem auf 16-Millimeter-Material gedrehten Debüt auf Anhieb der kraftvollste nordamerikanische Independent-Film des Jahres. Der ›Stand by me‹ unserer Zeit. Mit zärtlich beobachtender Kamera zeichnet er das lyrische Bild einer zerbrechlichen Generation.

Bereits in der zweiten Lebenshälfte ist die weibliche Hauptfigur in ›Suna‹. Mit diesem Film kehrt die türkische Regisseurin Çigdem Sezgin zum IFFMH zurück. Bereits 2015 war sie mit ihrem Debüt ›Wedding Dance‹ in Mannheim-Heidelberg zu Gast. Wie ihr Erstling beschäftigt sich auch ihr neuer Film mit den Mängeln der Ehe als gesellschaftliche Institution. Die 50-jährige ehemalige Schauspielerin Suna verspricht sich von der Heirat finanzielle Sicherheit und ein Dach über dem Kopf. Doch beides ist relativ: Das Haushaltsgeld ist knapp und die vom Imam geschlossene Verbindung sichert ihr juristisch keineswegs das Erbe des Hauses. Regisseurin Çigdem Sezgin seziert die Konventionen in der Türkei und zeichnet das sensible Porträt einer Frau auf der beschwerlichen Suche nach ihrem Platz in einer von Männern dominierten Welt.

Die Sektion PUSHING THE BOUNDARIES

PUSHING THE BOUNDARIES ergänzt den Wettbewerb durch innovative Werke bereits etablierter Regisseur*innen, darunter auch in diesem Jahr eine ganze Reihe spannender Deutschlandpremieren.

Diese Sektion hat dabei immer auch eine Offenheit für die Vielfalt der filmischen Genres: Ein besonders intensiver Politthriller ist etwa ›Blanquita‹ des chilenischen Regisseurs Fernando Guzzoni: Als Blanca zur Kronzeugin in einem landesweiten Skandal wird, klagt sie das politische System und seine handelnden Personen auf eine noch nie da gewesene Art und Weise an. Angelehnt an eine reale Begebenheit und mit Assoziationen an den Fall Jeffrey Epstein reflektiert ›Blanquita‹ über Schuld und Wahrheit jenseits des Gerichtssaals. In präzise komponierten Bildern fangen der Regisseur und sein Kameramann Benjamín Echazarreta die klaustrophobische, fast ausweglose Situation der Protagonist*innen ein. Und schließlich wandeln sie deren Wut in eine Kraft, die Hoffnung schenkt.

Ein weiterer Film dieser Sektion ist eine Wiederbegegnung mit Walter Hill, dem Altmeister des Westerns. Mit ›Dead for a Dollar‹ gelingt der amerikanischen Regielegende eine ebenso souveräne wie zeitgemäße Neuverortung des Genres. Es ist eine Hommage an das klassische Hollywoodkino und den Italowestern, die mit Stars gespickt ist: unter anderem Rachel Brosnahan, Christoph Waltz, Willem Dafoe und Benjamin Bratt sind in diesem Film zu erleben.

Außerdem als Deutschlandpremiere beim IFFMH 2022 zu sehen ist ›Stella in Love‹ von Sylvie Verheyde. Mit ihrem neuesten Werk transportiert die französische Regisseurin die autobiographische Protagonistin ihres gefeierten Vorgängerfilms ›Stella‹ an die Schwelle des Erwachsenwerdens. Und damit mitten in das tief gespaltene Frankreich der 1980er-Jahre. Verheyde beschwört diese Ära und Lebensphase wie einen wilden Traum, der ständig zu platzen droht. Mit der Tristesse des Alltags inklusive depressiver Mutter (Marina Foïs) konfrontiert, bietet der Protagonistin allein der extravaganteste Club der Stadt einen Ausweg: Les Bains Douches. Dort begegnet sie André, der tanzt wie ein junger Gott.

Die Sorgen und Krisen eines Jugendlichen sind auch das zentrale Thema im Familiendrama ›Winter Boy‹. Regisseur Christophe Honoré, der bekannt ist für melancholische Liebeskomödien, erzählt hier die Geschichte des 17-jährigen Lucas (Paul Kircher), dessen Leben aus den Fugen gerät. Mithilfe seiner Mutter (Juliette Binoche) und seines Bruders wagt er schließlich einen Neuanfang. Honoré beherrscht es wie wenige andere, ein Familiengefüge so zum Leben zu erwecken, dass jede Facette starke Emotionen vermittelt. Sei es die unbedingte Liebe der Mutter, das schwule Begehren des jüngeren Bruders oder die Abgeklärtheit des älteren, alles greift ineinander. In San Sebastián wurde der Film mit dem Preis für den besten Hauptdarsteller ausgezeichnet.

Im Rahmen der Ehrung der französischen Regisseurin und Drehbuchautorin Alice Winocour mit dem Grand IFFMH Award zeigt das Festival deren neuesten Film ›Paris Memories‹ als Deutschlandpremiere. Erneut erzählt Winocour in diesem aufrichtig und feinfühlig inszenierten Film von einer Traumatisierten (Virginie Efira), die versucht, ihren Weg zurück ins Leben zu finden und womöglich gar von der schrecklichen Erfahrung zu profitieren.

Abschlussfilm

Der Abschlussfilm des Festivals am 27. November ist ebenfalls eine Deutschlandpremiere: ›Chiara‹, die Geschichte einer Heiligen und Revolutionärin. Klara von Assisi betet und kämpft um ihre Freiheit und die Anerkennung des Papstes sowie für die Rechte der Frauen. Auf den Filmfestspielen von Venedig avancierte ›Chiara‹ zum großen Gewinner des Wettbewerbs. Insgesamt fünf Preise gingen unter anderem an Regisseurin Susanna Nicchiarelli, Kostümdesignerin Laura Montaldi und Hauptdarstellerin Margherita Mazzucco, die eine echte Entdeckung ist.

FACING NEW CHALLENGES

In der Sektion FACING NEW CHALLENGES erkundet das IFFMH nun schon im dritten Jahr die aktuellen Möglichkeiten des Bewegtbildes jenseits narrativer Kinoformate. Dazu blickt das Festival über den Kinosaal hinaus und integriert dabei neue, manchmal ungewöhnliche Orte. 2022 ist die Kunsthalle Mannheim erneut zentrale Spielstätte. Präsentiert werden dort im Atrium für den Zeitraum des Festivals zwei Werke aus der Serie ›landscapes and bodies‹ des deutschen Videokünstlers Daniel Kötter. Kötter beschäftigt sich in dieser Serie mit der Ressourcengewinnung in unterschiedlichen Teilen der Welt bzw. mit der Ausbeutung von Natur und Mensch. Konkret zu sehen sind ›Water & Coltan‹ sowie ›Gold & Coal‹. Das Publikum erwartet hier ein ganz besonderes sinnliches Erlebnis. Denn mit bereitgestellten VR-Brillen kann man die Werke als 360-Grad-Filme erleben und für jeweils circa 50 Minuten in eine andere Welt eintauchen. Die Bilder erscheinen so nah wie nie.

Eine herausragende Qualität von Kötters Filmen ist die enge Verzahnung von kontemplativer Landschaftsbetrachtung und handfester Kritik an den politischen Realitäten. Als Highlight zeigen IFFMH und Kunsthalle Mannheim aus derselben Serie Kötters am 23.11. den Film ›Oil Shale‹ in einem exklusiven Live-Film-Konzert mit der estnischen Noise-Techno-Band KEETAI.

Überdies kooperiert das IFFMH in diesem Jahr zum ersten Mal mit einem weiteren kulturellen Leuchtturm der Metropolregion Rhein Neckar: dem Nationaltheater Mannheim. In dessen Studio Werkhaus wird Heiner Müllers ›Philoktet‹ in einer Inszenierung des vielfach ausgezeichneten Regisseurs Jan Bonny präsentiert. Nicht als gewöhnliche Bühnen-Inszenierung, sondern als auf die Leinwand gedachtes Theater. Im Anschluss an die Arbeit auf der Bühne am Schauspielhaus Basel drehte der Regisseur mit den Schauspielerinnen Bibiana Beglau (in der Rolle der Erzählerin), Aenne Schwarz, Rosa Lembeck und Elmira Bahrami eine Fortführung des Stücks im filmischen Raum, die eine ganz andere Art der Körperlichkeit und Zeitlosigkeit findet.

Alphabetische Auflistung aller Filme des IFFMH 2022 geordnet nach Sektionen:

Eröffnungsfilm
Tagebuch einer Pariser Affäre, Emmanuel Mouret, Frankreich

Centre Piece
The Beasts, Rodrigo Sorogoyen, Spanien/Frankreich

Midnight Screening
Unicorn Wars, Alberto Vázquez, Spanien/Frankreich

Abschlussfilm
Chiara, Susanna Nicchiarelli, Italien/Belgien

ON THE RISE
El Agua, Elena López Riera, Spanien/Schweiz/Frankreich
Ashkal, Youssef Chebbi, Tunesien/Frankreich
Astrakan, David Depesseville, Frankreich
The Dam, Ali Cherri, Sudan/Frankreich/Serbien/Deutschland
How Is Katia?, Christina Tynkevych, Ukraine
I have Electric Dreams, Valentina Maurel, Costa Rica/Belgien/Frankreich
Joyland, Saim Sadiq, Pakistan
The Maiden, Graham Foy, Kanada
Next Sohee, July Jung, Südkorea
The Sixth Child, Léolpold Legrand, Frankreich
Sons of Ramses, Clément Cogitore, Frankreich
Suna, Çigdem Sezgin, Türkei/Spanien/Bulgarien
A Tale of Shemroon, Iran/Frankreich/Deutschland/Italien
Valeria is getting married, Michal Vinik, Israel/Ukraine
Wolf and Dog, Cláudia Varejão, Portugal/Frankreich
You won’t be alone, Goran Stolevski, Australien/Großbritannien/Serbien

PUSHING THE BOUNDARIES
Blanquita, Fernando Guzzoni, Chile/Mexiko/Luxemburg/Frankreich/Polen
Dead for a Dollar, Walter Hill, USA/Kanada
Forever Young, Valeria Bruni Tedeschi, Frankreich
Leila’s Brothers, Saeed Roustaee, Iran
Manticore, Carlos Vermut, Spanien
The Night of the 12th, Dominik Moll, Belgien/Frankreich
Pacifiction, Albert Serra, Spanien/Frankreich/Portugal/Deutschland
Paris Memories, Alice Winocour, Frankreich
Stella in Love, Sylvie Verheyde, Frankreich
Stone Turtle, Woo Ming Jin, Malaysia
Vera, Tizza Covi/Rainer Frimmel, Österreich
When the Waves are Gone, Lav Diaz, Philippinen/Dänemark/Portugal/Frankreich
Winter Boy, Christophe Honoré, Frankreich
A Woman, Jean-Paul Civeyrac, Frankreich

SPECIALS
Aus meiner Haut, Alex Schaad, Deutschland
Palm Trees and Power Lines, Jamie Dack, USA
Rodeo, Lola Quivoron, Frankreich
Safe Place, Luraj Lerotić, Kroatien

RETROSPEKTIVE (in chronologischer Folge)
Salomé, Charles Bryant/Alla Nazimova, USA 1922 
The Women, George Cukor, USA 1939
Falbalas – sein letztes Modell, Jacques Becker, Frankreich 1945
Puzzle of a Downfall Child, Jerry Schatzberg, USA 1970  
Pink Narcissus, James Bidgood, USA 1971
Die bitteren Tränen der Petra von Kant, BRD 1972 
Ludwig II., Luchino Visconti, Italien/Frankreich/BRD 1973
Picknick am Valentinstag, Peter Weir, Australien 1975
Orlando, Sally Potter, Großbritannien/Russland/Italien/Frankreich/Niederlande 1992
The Virgin Suicides, Sofia Coppola, USA 1999
Mädchenbande, Céline Sciamma, Frankreich 2014
Die Taschendiebin, Park Chan-wook, Südkorea 2016

KINDERFILMFEST
Bigman, Camiel Schouwenaar, Niederlande
Comedy Queen, Sanna Lenken, Schweden
The Exploits of Moominpapa, Ira Carpelan, Finnland/Polen
Gandhi & Co., Manish Saini, Indien
Girls Go Movie Special (Highlights 2017-2022), diverse, Deutschland
Mein kleines Land, Emma Kawawada, Japan/Frankreich
Oink, Mascha Halberstad, Niederlande/Belgien 
Die Tochter der Sonne, Catalina Razzini, Bolivien/Spanien/Deutschland

Hommage Benoît Debie
Love 3D, Gaspar Noé, Frankreich/Belgien 2015
Spring Breakers, Harmony Korine,  USA 2012
Vinyan, Fabrice du Welz, Belgien/Frankreich/ Großbritannien 2008

Grand IFFMH Award Alice Winocour
Paris Memories, Frankreich 2022
Proxima, Frankreich/Deutschland 2019

FACING NEW CHALLENGES
Philoktet (Heiner Müller), Jan Bonny, Deutschland 2022
Gold&Coal/Oil Shale/Water&Coltan, Daniel Kötter, Deutschland 2020-2021

Das 71. IFFMH findet vom 17. bis zum 27. November 2022 statt.

(Quelle: IFFMH – Filmfestival Mannheim gGmbH)