Mannheim. Das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg feiert vom 16. bis 26. November seine 72. Ausgabe. Neben der Entdeckung internationaler Talente wirft das IFFMH seit 2020 mit der Retrospektive wieder einen jährlich wechselnden Blick in die Geschichte des Kinos. In diesem Jahr ist die Retrospektive der Schauspieltechnik »Method Acting« gewidmet und nimmt damit die psychologische und physische Arbeit von Schauspieler*innen wie Marilyn Monroe, Sally Field, Joanne Woodward, Kim Stanley, Marlon Brando, Montgomery Clift, Sidney Poitier, Robert De Niro und Al Pacino in den Fokus. Festivalleiter Dr. Sascha Keilholz und Kurator Hannes Brühwiler haben zwölf Filme aus den Jahren zwischen 1947 und 1980 ausgewählt, die mit der bis dahin vorherrschenden Leinwand-Theatralik brechen und einen neuen, revolutionären Naturalismus praktizieren, der das New Hollywood der späten 1960er und 1970er Jahre maßgeblich prägte.
“Im Zuge der Retrospektive wagen wir nicht nur einen Blick in die Vergangenheit. Im Gegenteil: das, was uns gerade beschäftigt, die Werke, die uns in diesem Jahr faszinieren, wird durch die Vorgänger in einen völlig neuen Kontext gestellt. So lassen sich durch die Historie die Filme immer wieder neu erfahren. Die Entwicklung des Schauspiels ist – als Metier und künstlerische Technik – untrennbar mit der Filmgeschichte verbunden. Method Acting hat einige der größten Figuren des Kinos hervorgebracht.”, so Festivalleiter Dr. Sascha Keilholz über die Bedeutung der diesjährigen Retrospektive im Gesamtprogramm des 72. IFFMH. Ihren Anfang hat “the method – die Methode” in den 1930er-Jahren in den USA genommen. Aufbauend auf den Ideen des russischen Schauspielers und Regisseurs Konstantin Stansislawski begann eine junge Generation von progressiven Schauspieler*innen die Art und Weise zu überdenken, wie sie ihre Figuren auf der Bühne und vor der Kamera verkörpern. Ihr Ziel: Eine Wahrhaftigkeit der Gefühle und Körperlichkeit. Hannes Brühwiler, Kurator der Retrospektive: “Zwei besonders physische Leistungen des Method Actings rahmen unsere Retrospektive ein: Wir beginnen mit dem Boxfilm ›Body and Soul‹ (1947) von Robert Rossen, in dem John Garfield, der heute als erster Method Actor der Filmgeschichte gilt, einen jüdischen Boxer aus der Lower Eastside in New York spielt, dem, gegen zahlreiche Widerstände, eine fabelhafte Karriere gelingt. Ein visuell innovativer Film, der unserem Abschlussfilm, Martin Scorseses ›Raging Bull‹ (1980) als Vorbild diente. Robert De Niro liefert hier mit seiner Darstellung des italoamerikanischen Mittelgewichtsboxers Jake LaMotta eine der prägenden Schauspielleistungen des 20. Jahrhunderts. Um den Niedergang LaMottas zu verkörpern, nahm De Niro 26 Kilogramm zu und führte das Method Acting in bis dato nie gesehene Extreme.”
Die Energie des Method Actings speist sich aus der Dynamik des Ausgeliefertseins und des Ankämpfens. Diesen existenziellen Zustand vermitteln Sally Field und Barbara Loden auf einzigartige Weise. Sally Field, die für ihre Darstellung in ›Norma Rae‹ mit einem Oscar ausgezeichnet wurde, kämpft gegen die widrigen Arbeitsbedingungen einer Fabrik. Barbara Loden zieht in ›Wanda‹ alleine durch das ärmliche Pennsylvania und lässt sich immer wieder auf Männer ein, die sie nur ausnutzen oder gar in einen Bankraub mit hineinziehen. Die am legendären und dem Method Acting verpflichteten Actors Studio ausgebildete Loden gehörte zu den prägendsten Schauspielerinnen der 1960er- und 70er-Jahre. ›Wanda‹ ist ihr leuchtendes Vermächtnis und ein zentraler Film der Retrospektive. Die Frage der Selbstbestimmung stellt sich auch Joanne Woodward in ›Rachel, Rachel‹. Die Hauptfigur muss sich zwischen einem Leben bei ihrer Mutter und einem Mann aus der Großstadt entscheiden. Mit diesem Debüt gelang Woodwards Ehemann Paul Newman, der vor allem als Schauspieler und weniger für sein Schaffen als Regisseur Bekanntheit erlangt hat, ein überaus bemerkenswerter Film. ›Rachel, Rachel‹ war einer der Filme, die den Beginn des New Hollywood markierten.
Im Method Acting offenbart sich nicht nur die Chemie zwischen den Figuren im Film, sondern auch die Energie zwischen den Darstellern vor der Kamera auf besonders eindringliche Weise. Unter allen Method-Schauspieler*innen stach die von ihren Kolleg*innen hoch geschätzte Kim Stanley hervor. „Die Ehrlichkeit und das intensive emotionale Spiel, auf das sie sich in ›Seance on a Wet Afternoon‹ einlässt, war noch nie zuvor versucht worden: Es war ein gefährliches Spiel, und sie war bemerkenswert.“, sagte Marlon Brando über Stanley. Der von Brian Forbes inszenierte und neben Stanley mit Richard Attenborough hochkarätig besetzte englische Kriminalfilm ist eine Wiederentdeckung der Retrospektive. Brando wiederum prägte mit seinem Schauspiel zahlreiche Filme, doch kaum eine Rolle war ikonischer, als die des Hafenarbeiters Terry Malloy in Elia Kazans Drama ›On the Waterfront‹. Der Film war 1954 eine Sensation und wurde mit acht Oscars ausgezeichnet, u.a. für Brando, der wie gleich mehrere hier vor der Kamera versammelte Schauspieler ebenfalls an dem von Kazan mitbegründeten Actors Studio sein Handwerk erlernte. In die Riege legendärer Leinwandbegegnungen reihen sich auch Marilyn Monroe, Clark Gable und Montgomery Clift in John Hustons ›The Misfits‹ ein. Ein magisch-trauriger Film voller gebrochener Menschen vor und hinter der Kamera, der in einer grandios-erschütternden Pferdejagd gipfelt. Ein ungemein bewegender Abgesang auf den Western. Mit ›A Place in the Sun‹ katapultierte sich jener Montgomery Clift zum Superstar. Zusammen mit Brando repräsentierte er eine neue Generation von Schauspieler*innen. Der mit sechs Oscars ausgezeichnete Film von George Stevens erzählt von einer glamourösen Zukunft eines aus ärmlichen Verhältnissen stammenden jungen Mannes, über den die dunkle Vergangenheit hereinzubrechen droht.
Die Retrospektive belegt auch die politisch-historische Dimension des Method-Acting-Kinos: Getragen von der Schauspielleistung Rod Steigers und Sidney Lumets präziser Regie gilt ›The Pawnbroker‹ heute als bahnbrechendes Werk der 1960er, das Zuschauer*innen wie Zensur mit der Thematisierung des Holocausts konfrontierte. Stanley Kramers ›The Defiant Ones‹ hingegen ist ein wichtiger Film der 1950er, der nicht nur den Rassismus und die Intoleranz, sondern auch die damaligen Repressionen unter dem berühmt berüchtigten Senator McCarthy in aller Deutlichkeit anprangert. Sidney Poitier und Tony Curtis sind hier als flüchtige Gefangene aneinandergekettet – zwischen ihnen eine Welt geprägt von tiefstem Rassismus, vor ihnen eine Odyssee durch die Südstaaten der USA. Als politischer und zugleich künstlerisch anspruchsvoller Stoff reiht sich auch Francis Ford Coppolas ›The Godfather Part II‹ in die Retrospektive ein. ›The Godfather Part II‹ wird getragen von zahlreichen Method Schauspieler*innen, angefangen bei Al Pacino als neues Clanoberhaupt Michael Corleone und Robert De Niro als junger Vito Corleone bis hin zu John Cazale, Diane Keaton und dem überaus einflussreichen Method-Acting-Lehrer Lee Strasberg.
“Method Acting fand zu seinem Höhepunkt großen Zuspruch bei einem Publikum, das sich für eine neue Darstellung von Realität interessierte. Mit Blick auf unser heutiges Medienverhalten lässt sich erkennen, dass der Einfluss des Method Actings über das Kino hinausgeht. In einer Gesellschaft, in der das eigene Selbst immer stärker vermarktet werden will und eine digital präsentierte Authentizität zentral ist, ist die Grundidee des Method Actings nicht mehr wegzudenken.”, so Kurator Hannes Brühwiler.
Body and Soul (USA 1947)
Bildmaterial können Sie über den folgenden Link in unserem Pressebereich herunterladen: https://www.dropbox.com/scl/fo/w7ysa9poooqyel019frnx/h?rlkey=1qu0dg6z4n9e9bqq7fr0c8q3u&dl=0
Das IFFMH ist eine einzigartige Plattform des kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Dialogs durch Filmkunst seit 1952. Damit ist es nach der Berlinale das traditionsreichste Filmfestival in Deutschland. Zentrales Anliegen des IFFMH ist die Entdeckung und Förderung junger Filmtalente aus der ganzen Welt. Das 72. IFFMH findet vom 16.11. bis 26.11.2023 in Mannheim und Heidelberg statt. Das gesamte Festivalprogramm wird Ende Oktober veröffentlicht. |
(Quelle: IFFMH – Filmfestival Mannheim gGmbH)