Mannheim. Das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg (IFFMH) feiert in diesem Jahr vom 16. bis 26. November seine 72. Ausgabe.
Festivalbesucher können wieder Deutschlandpremieren internationaler Regietalente entdecken. Erste spannende Filmhighlights stammen z.B. aus Nepal, Singapur, China, Italien, Deutschland, Mazedonien, Kanada und den USA. Ein Wiedersehen gibt es zudem mit dem Gewinner des Newcomer Awards aus dem Vorjahr: Goran Stolevski wird beim 72. IFFMH Teil der internationalen Jury sein und ist mit zwei neuen Filmen im Programm vertreten.
Im internationalen Wettbewerb: Hellsichtige Gesellschaftsbilder, grandios inszenierte Traumlandschaften und exzessives Körperkino
Im internationalen Wettbewerb ON THE RISE sind erneut erste und zweite Werke aufstrebender internationaler Regietalente als Deutschlandpremieren zu entdecken. Es sind Geschichten von fantastischen Reisen, vielschichtigen Beziehungen sowie menschlichen Abgründen und Sehnsüchten.
Sean Price Williams gehört zu den wichtigsten Kameramännern des New Yorker Independent-Kinos. Mit ›The Sweet East‹ liefert er nun sein rasant-märchenhaftes Solo-Debüt als Regisseur. Eine moderne Interpretation von Alice im Wunderland, in der er das mentale, soziale und politische Auseinanderbrechen seines Heimatlandes spiegelt. Eine junge Ausreißerin gelangt zu verschiedenen Subkulturen an der amerikanischen Ostküste. Von Neo-Punks zu weißen Rassisten, von hysterisch überdrehten linken Künstlertypen zu fundamentalistischen Islamanhängern. Ein hellsichtiger Blick in die Abgründe der US-amerikanischen Gesellschaft.
Vom New Yorker Untergrund auf die Straßen Roms: Alain Parronis Spielfilmdebüt ›An Endless Sunday‹ beschwört die nostalgische Wirkung des klassischen italienischen Kinos herauf. Parroni verfolgt den Alltag dreier Millennials, die in den Außenbezirken Roms zwischen Perspektivlosigkeit und Lebenslust ziellos durch die Gegend streifen. Die drei Hauptdarsteller*innen Enrico Bassetti, Federica Valentini und Zackari Delmas stellen die sich ihrem Ende zuneigende Jugend explosiv dar. ›An Endless Sunday‹ ist ein unvergesslicher, bombastischer Schlag in die Magengrube mit einer grandios eigenständigen, originellen Bildsprache. In Venedig gewann der Film gerade den Spezialpreis der Jury in der Sektion Orrizonti sowie den FIPRESCI Award.
Dagegen zeichnet die amerikanische Regisseurin Lucy Kerr mit ›Family Portrait‹ ein tragikomisches Alltagsporträt einer texanischen Großfamilie und lässt dabei beinahe unmerklich alle Grenzen von Zeit und Raum, Traum und Wirklichkeit hinter sich: Bei einer Familienzusammenkunft auf einem texanischen Anwesen verschwindet Katys Mutter plötzlich spurlos. Die Suche nach ihr inszeniert Regisseurin Lucy Kerr, 1990 in Houston geboren, als Reise ins Innere. Wunderbar elegant, manchmal geradezu schwebend in Szene gesetzt.
Grandios märchenhaft und verspielt erzählt Nelson Yeo aus Singapur in ›Dreaming and Dying‹, als bester Debütfilm in Locarno ausgezeichnet, vom stillen Bedauern darüber, dass man immer nur ein einziges Leben zu leben hat. Der Film beginnt ganz leise: Drei Menschen kommen in einem Küstenort zusammen, es ist ein Klassentreffen und sie sind die einzigen, die erschienen sind. Schon bald treten ganz reale Sehnsüchte an die Oberfläche und der Film lässt Traum und Wirklichkeit mehr und mehr ineinanderfließen. Regisseur Yeo findet inmitten der fantastischen Erscheinungen immer wieder Momente der Leichtigkeit und des ungezwungenen Humors. Und erzählt dabei in kraftvollen Bildern von einer unmöglichen Liebe, sprechenden Fischen sowie von der schmerzhaft-vertrauten Beziehung eines langjährigen Paares.
Auch in ›Touched‹ von Claudia Rorarius geht es um emotionale und insbesondere körperliche Annäherung. Mit fotografischem Blick und jenseits des verbreiteten Schönheitsideals zeigt die deutsche Regisseurin Körper wie sie sind. Ein überaus intensiver Film, in dem zwei Außenseiter in einen Malstrom aus gegenseitiger Abhängigkeit, Erniedrigung und Macht geraten und sich an die eigenen Grenzen und darüber hinaus treiben. Die beiden Hauptdarsteller wurden in Locarno als beste Nachwuchsschauspieler ausgezeichnet.
Im Programm des IFFMH finden sich auch in diesem Jahr wieder Entdeckungen aus Ländern, deren Filmkulturen in Deutschland ansonsten kaum oder gar nicht präsent sind. ›The Red Suitcase‹ von Fidel Devkota spiegelt auf fantastische Weise die Situation der Jugend im heutigen Nepal wider, die von wachsender politischer und wirtschaftlicher Unsicherheit geprägt ist: Ein Pick-up-Fahrer verlässt den Flughafen von Kathmandu, um eine zweitägige Fahrt mit einer Lieferung aus dem Ausland in ein abgeschiedenes Bergdorf anzutreten. Auf einer Landstraße macht sich eine einsame Gestalt langsam auf den Weg und zieht einen kleinen roten Koffer in Richtung desselben Dorfes. In den langen, statischen Einstellungen und eingebettet in die nebelverhangene Landschaft Nepals entwickelt ›The Red Suitcase‹ eine mystische und ergreifende Wucht. Nicht zuletzt seine gänzlich ungewöhnliche Erzählweise vermittelt uns einen tiefen Einblick in eine andere Kultur.
PUSHING THE BOUNDARIES: Die tiefen Abgründe des Menschlichen
In der Sektion PUSHING THE BOUNDARIES präsentiert das IFFMH aktuelle Werke etablierter Filmemacher*innen, die aus Sicht des Programmteams die Grenzen des Mediums Film auf originelle Weise ausloten oder gar verschieben. Ebenfalls als Deutschlandpremieren sind hier u.a. Goran Stolevskis ›Housekeeping for Beginners‹ sowie Beiträge aus China und Kanada dabei, die in ihrer ästhetischen Form und mit spannenden Erzählungen überzeugen.
›Only the River Flows‹ (2023) ist der inzwischen dritte Spielfilm des chinesischen Regisseurs Wei Shujun, Jahrgang 1991. Ein visuell aufregender, emotional vielschichtiger und äußerst spannender Serienmörderfilm aus China: Ma Zhe, Teamleiter bei der lokalen Kriminalpolizei, beginnt mit seinen Ermittlungen. Doch was zunächst nach Routine aussieht und schon bald zu einer Verhaftung führt, ist in Wahrheit ein großes Rätsel. Wie im Film Noir des klassischen Hollywoods erschafft Wei Shujun eine unvergleichliche Atmosphäre aus undurchdringlicher Dunkelheit, Licht und allgegenwärtig fließendem Wasser. Auf körnigem 16mm-Material gedreht, wirkt der Film, als sei er zu der Zeit entstanden, in der er spielt, nämlich in den 1990er Jahren.
Auch der kanadische Regisseur Pascal Plante, Jahrgang 1988, beschäftigt sich mit den Abgründen des Menschlichen und lässt sich rückhaltlos auf die Perspektive seiner weiblichen Hauptfigur ein: Eine junge Frau ist als Prozessbeobachterin dabei, als der Mord an drei Mädchen verhandelt wird. Eines der Mädchen ähnelt ihr auf seltsame Weise und sie macht sich auf die dunkle Suche nach dem letzten Puzzleteil. Mit seinem dritten Spielfilm ›Red Rooms‹ liefert Pascal Plante einen Kriminalfilm, der sich immer mehr zum nervenzerreißenden Psychothriller entwickelt.
Goran Stolevski: IFFMH Gewinner in der internationalen Jury
Im vergangenen Jahr hat Goran Stolevski mit seinem Langfilmdebüt ›You won’t be Alone‹ (2021) den IFFMH Newcomer Award gewonnen. In diesem Jahr kehrt der australisch-mazedonische Filmemacher als Juror in die internationale Jury zum IFFMH zurück.
Stolevskis Filme sind vielschichtige Kompositionen von großer Schönheit und anrührender Kraft. Sein dritter Langfilm ›Housekeeping for Beginners‹ (2023), bei dem er Regie, Drehbuch und Schnitt verantwortete, läuft als Deutschlandpremiere in der Sektion PUSHING THE BOUNDARIES.
Das Drama spielt in Mazedonien und erzählt von Daria, die nie Mutter sein wollte. Doch die äußeren Umstände zwingen sie dazu, die beiden Töchter ihrer Lebensgefährtin großzuziehen. Der Film zeigt familiären Zusammenhalt jenseits von Verwandtschaftsverhältnissen und traditionellen Rollenbildern und fordert so unsere Sehgewohnheiten heraus.
Alle genannten Filme sind Deutschlandpremieren.