Volles Haus bei der vhs-Rheinzabern, völlig zufrieden das Publikum nach einem spannenden Abend im Kleinen Kulturzentrum. Schon früh im Gedenkjahr an den Ausbruch der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ versucht Dr. Stefan Woltersdorff eine literarische Annäherung an den I. Weltkrieg, vor allem aus der Perspektive derer, die den Krieg „ganz unten“ erlebten.
Die Beschränkung auf Elsass und Lothringen richtet den Blick auf eine besonders symbolträchtige und bereits vor 1914 kulturell „umkämpfte“ Großregion. Den Kampf um die Seelen der Menschen im Spannungsfeld zwischen Paris und Berlin hatten die Deutschen spätestens mit dem Ausgang der „Zaberner Affäre“ endgültig verloren. Dieser Kampf um die Sympathie riss Familien auseinander, noch ehe Verwandte zu beiden Seiten der Front gegeneinander kämpften. Wie schal müssen da Thomas Manns Worte klingen, als er vom kommenden Krieg als einer ersehnten „Reinigung“, gar von der „Veredelung“ des Menschen spricht. Für seinen Bruder Heinrich, einen Kriegsgegner, bringt er nur Verachtung auf.
Dichter wie Ernst Jünger, Alfred Döblin oder René Schickele kommen zu Wort. Lange bevor der Mythos Verdun entsteht, sind die Argonnen, die Vogesen oder die Woevre-Ebene von Granaten durchwühlt, mit Eisen gespickt und vom Blut junger Menschen getränkt. Das Vokabular für die Eindrücke ist international und passt zu vielen Schauplätzen: Zerwühltes Ackerland, scheue Schatten, dem Krieg ins Angesicht blicken, 3000 fiebernde Knaben müssen durch, damit noch 2000 ankommen, Tritte auf gefallene Kameraden, immer weiter, Trost im Lied „Am Brunnen vor dem Tore“, Feuer, Eisen, Blut, „Komm her, Geselle, hier find’st du deine Ruh…“ – Wortfetzen, Schlagworte, Zitate, Liedtexte durcheinander, Chaos…
Im Bahnhof von Metz, einer der wichtigsten Festungen gegen den „Erbfeind“, werden die Weichen gestellt für Millionen Feldgrauer auf dem Weg zur Front. Ertönt bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof noch „ein Ruf wie Donnerhall“ und die „Wacht am Rhein“, so ist die Rückkehr der Güterzüge mehr eine Sache für das Abstellgleis. Adrienne Thomas schreibt in ihrem Roman Die Katrin wird Soldat (1930): 22. Februar 1915. Ich ging zum Dienst, und es erwartete mich eine Hölle. Ein Lazarettzug von 42 Waggons lief ein. Die kriegsführenden Länder tauschen ihre Schwerverwundeten aus. In zweiundvierzig Waggons konnte man das sehen, was nicht mehr kriegsverwendungsfähig war und der Mühe nicht wert, von Deutschland bis zum Friedensschluss aufbewahrt zu werden. Menschenrestchen[…]. Zweiundvierzig Waggons voll vernichteten Lebens. Und ein ganz, ganz geringer Prozentsatz von dem, was – über ganz Europa verteilt – zum Himmel schreit, zum Himmel stinkt.
Der Elsässer René Schickele erinnert an die Leiden am berühmt-berüchtigten Hartmannsweilerkopf in den Vogesen, den er als „Golgatha“ bezeichnet, wo in vier Kriegsjahren 60 000 Männer umkamen, unlöslich miteinander verwoben, Schicht auf Schicht. Sie zu trennen hätte bedeutet, einen Berg spalten zu müssen.
Ernst Jünger erhielt seine Feuertaufe bei Les Éparges. Sein berühmtes Werk In Stahlgewittern gilt als einer der berühmtesten Romane über den I. Weltkrieg. Mehrfach schrieb Jünger dieses Werk um, verschwieg so manchen Eintrag in sein jüngst gefundenes Tagebuch, wo er von Saufereien, Raufereien, Plünderungen und sexuellen Erlebnissen berichtet.
Der Lothringer Philippe Claudel (Jahrgang 1962) bringt es auf den Punkt: Der Tod ist ebenso wenig französisch wie deutsch. Weder Schmerz noch Leid gehören einzelnen Völkern. Töten ist nicht menschlich, so einfach ist das, aber Überleben ist es, mehr als alles andere. Und sich erinnern ist es auch, aber nicht in Form einer säuerlichen, sich stets wiederholenden Litanei: Wir müssen nur einfach da sein, damit nichts wirklich stirbt, auf dass aus einer befriedeten Erinnerung eine verheißungsvolle Zukunft erwachsen möge.
Claudia Rösner, Klavier, war kurzfristig eingesprungen und gab dem Abend einen besinnlich-feierlichen Rahmen. Mit Bach, Debussy und Chopin hatte sie wunderbare Stücke ausgesucht, ihre Musik schlug eine wahre Brücke der Erinnerung und Versöhnung.