Wie wurden die IP-Adressen beschafft? +++ Was wussten die Anwälte? +++ Wurden die Richter mit einer eidesstattlichen Erklärung hinters Licht geführt? +++ Wer oder was ist „The Archive AG“? +++ Wie ist der aktuelle Stand?
Das sind die zentralen Fragen in einem Fall, der sich langsam aber stetig zu einem der grössten Computerbetrugsfälle in der noch jungen Geschichte des deutschen Internets entwickelt.
Was war passiert?
Nutzer des Streamingportals bekamen im großen Stil Post der Regensburger Abmahnkanzlei U+C Urmann und Collegen. Zunächst einmal ein ganz normaler Abmahn-Fall – so schien es.
Auf der einen Seite ein vermeintlicher Urheberrechtsverletzer und auf der anderen Seite ein Urheberrechtsinhaber der sich mit juristischen Mitteln wehrt.
Der Schönheitsfehler
Doch die Sache hat einen kleinen wenn auch bedeutenden Schönheitsfehler. Die Erklärung, wie die IP-Adressen beschafft wurden, hält keiner technischen Überprüfung stand.
So wollen die Abmahner die IP-Adressen über eine Firma bezogen haben, die mit der Software „GLADII 1.1.3“ ihrerseits die IP-Adressen im grossen Stil abgegriffen haben will.
Um dies zu untermauern wurde dem Landgericht in Köln ein Gutachten der Kanzlei Diehl & Partner vorgelegt, das beweisen soll dass die Software dazu in der Lage ist.
Filesharing vs. Filestreaming
Beim Filesharing ist es mit ganz einfachen Mitteln und ohne Verletzung der Gesetze möglich die Nutzer auszulesen und deren IP zu ermitteln.
Wer sich in ein sogenanntes „Peer-to-Peer“- Netzwerk begibt, beteiligt sich automatisch am Upload und Download von Dateien.
Es wird eine 1:n-Verbindung aufgemacht. Das bedeutet, dass der Einzelne (1) mit vielen Anderen (n) direkt verbunden wird.
Da die Teilnahme an einem solchen Netzwerk nur über spezielle Software möglich ist, besteht die Gefahr der Überwachung durch Rechteinhaber jederzeit.
Beim Filestreaming wird eine 1:1-Verbindung hergestellt. Das bedeutet, dass der Nutzer nur direkt mit dem Streamingserver verbunden ist.
IP-Adressen Ermittlung
Da es sich bei der Verbindung zu einem Streamingserver um eine 1:1-Verbindung handelt, können sich gerade Experten keine legalen Weg zur Beschaffung einer einzelnen IP erklären.
In eine solche Verbindung dringt man nur mit kriminellen Mitteln und unter Umgehung aller Rechte auf Privatsphäre von Nutzern ein.
Im vorliegenden Fall geht es um 10.000 IP-Adressen. Dies ist und bleibt in einer solchen Größenordnung schlicht unmöglich.
Haben die Abmahner aus diesem Grund bisher noch nicht den Beweis dazu angetreten?
Größter Computerbetrug im jungen deutschen Netz?
Die Dimension, die hinter dem Fall liegt ist wohl weit aus größer als sich die Behörden derzeitig vorstellen können.
Fakt bleibt: Um an die Adressen der Nutzer in diesem Ausmaß zu kommen, dürfte wohl Computerbetrug in einer gigantischen Dimension im Raum stehen. Bei bisher 10.000 Geschädigten eine Sache, die nicht unter den Tisch gekehrt werden darf.
Es ist die Entscheidung jedes Einzeln ob er Strafantrag wegen Computersabotage stellt.
So oder so haben die Behörden bereits Kenntnis von den tausenden von Fällen und werden hoffentlich bald tätig.
Was wussten die Anwälte?
Die Abmahnanwälte bleiben bei der Darstellung, dass es keine Rolle spielen würde, wie die IP-Adressen beschafft wurden. Auskunft darüber im Fall Redtube könnte zunächst der Berliner Anwalt Daniel Sebastian geben. Er hat sich wahrscheinlich um die Beschaffung der IP-Adressen gekümmert und dann die Regensburger Kanzlei U+C mit den Massenabmahnungen beauftragt.
Von Daniel Sebastian war bisher noch nichts Erhellendes in dieser Angelegenheit zu vernehmen.
Da er die „The Archive AG“ vetritt müsste er genauere Kenntnisse des Vorgangs um die Beschaffung haben.
IP-Adressenbeschaffung legal oder illegal?
Im Gegensatz zur Sichtweise der Abmahner spielt es eine erhebliche Rolle, wie die IP-Adressen beschafft wurden.
Wenn bewiesen wird, dass alle über die seltsamen Domains movfile.net und retdube.net geschleusst wurden und das die angegebene Software überhaupt nicht beteiligt sein konnte, dann wurden Tausende in eine Falle gelockt, mit dem Ziel der Vermögensschädigung. Das wäre dann Betrug im ganz großen Stil. Zumindest zur Zeit ist noch nicht erklärt worden, wie diese Software in einen Stream eingreifen könnte. Geschweige denn viele 1000e Male.
Handshaking mit den Rechteinhabern?
Das so mancher Anwalt, angesichts schwindender Umsätze beim Filesharing sich nach neuen Einnahmequellen umschaut liegt auf der Hand. Doch genau hier beginnt diese merkwürdige Kooperation auf dem Rücken der Nutzer. So sollen Anwälte selbst schon Tube-Seiten ins Netz gestellt haben um über die Serverlogs die IP-Adressen einfach und direkt auslesen zu können. Auch von höchst bedenklichen Erfolgshonoraren und seltsamen Vertragskonstrukten zwischen Pornoproduzenten und Abmahnanwälten ist immer wieder die Rede.
Nun steht im Fall Redtube die Frage im Raum: Welche Rolle spielen die beiden Domains: movfile.net und retdube.net?
Hinweise auf diese Domains haben viele Betroffene in ihrer Browserhistory gefunden.
Pikant: Die beiden Domains wurde erst kurz vor Beginn der IP-Ermittlungen anonym in Panama registriert.
Auch das Skript Transfer.php welches im Zusammenhang mit trafficholder steht, hat hier eine Rolle gespielt und wurde laut Medienberichten von Nutzern auf dem PC in der Browserhistory gefunden. (Wir berichteten)
Aktueller Stand
Zunächst einmal geht es um die Frage, ob die Abmahner das Landgericht Köln mit einer gezielt unklar formulierten eidesstattlichen Erklärung hinters Licht geführt haben.
Denn bei Offenlegung aller Fakten und der Deutlichmachung es handle sich um Filestreaming, wären die Kammern wohl zu einem anderen Ergebnis gekommen und hätten die Telekom nicht aufgefordert die Adressen, an die mit dubiosen Mitteln agierenden Abmahner, herauszugeben.
Abmahnungen gestoppt
Am gestrigen Samstag 21.12.2013 entschied zusätzlich das Landgericht Hamburg die einstweilige Verfügung von Redtube gegen „The Archive AG“ zu Gunsten der Nutzer und Redtube.
Es dürfen vorerst keine Abmahnungen im Namen der „The Archive AG“ an Nutzer in Deutschland verschickt werden.
Damit haben die hanseatischen Richter erstmal die Notbremse gezogen und den Abmahnern die Grenzen gezeigt.
Denn so einfach wie es sich die Anwälte vorgestellt hatten, in den kommenden Wochen und Monaten vielleicht 100.000e Nutzer abzumahnen und damit mit den Rechteinhabern grosse Kasse zu machen, ist es nicht.
The Archive AG
Vielleicht sollten sich die Abmahner langsam mal mit ihrem Klienten selbst befassen. Laut Schweizer Medien könnte die Firma selbst Rechtsverstösse begangen haben. Die Weitergabe der IP-Adressen könnte gegen Schweizer Recht verstossen haben.
The Archive AG wurde vom Intergroove-Chef Ralf Reichert im März 2011 ins Leben gerufen. Sinn und Zweck dieses Unternehmens ist die Analyse und Ermittlung des Schadens durch Filesharing und Filestreaming (laut Angaben auf der Webseite).
Reichert der erstmals eine Blu-Ray „Die Schlacht an der Neratva“ herausbrachte, mischt ansonsten im Film- und Musikbusiness mit.
Seine „The Archive AG“ blickt über eine dünne Firmengeschichte zurück in der noch keine nennenswerten Umsätze getätigt wurden. Für 2012 wies die Firma ein Vermögen von 100.000 Franken auf. Das ist genau der Betrag, der in der Schweiz für die Gründung einer solchen Aktiengesellschaft notwendig ist.
Steuern wurden in der Schweiz noch nicht gezahlt. Es sieht zumindest danach aus, als sei diese Firma Teil dieses Abmahnkonstruktes.
Die Webseite der Firma macht einen sehr unprofessionellen Eindruck. Das Impressum ist nicht vorhanden. Lediglich die Adresse und eine Telefonnummer verstecken sich klein hinter dem Link zum Kontaktformular. Seriös sieht in jedem Fall anders aus.
Das sagen andere Anwälte
Rechstanwalt Malte Dedden erklärt die Sachlage auf conlegi.de
Rechtsanwalt Niko Härting erklärt den Konsum von Pornos
Die Einschätzung unserer Anwältin, Michaela Tischbein zum Fall.
Sie hatte in Filesharing-Fällen bereits Mandanten vertreten und ist mit der Materie vertraut.
Weder ist das ordnungsgemäße Ermitteln der IP-Adressen dargelegt und nachgewiesen, noch ist die urheberrechtliche juristische Einordnung des Streaming durch die Fachleute eindeutig. Die Frage der Rechtmäßigkeit des Verhaltens der User ist sicherlich einfacher zu beantworten als die Frage, wie mit Hilfe des eingesetzten Ermittlungsprogramms GLADII 1.1.3. die IP-Adresse des Betrachters ausfindig gemacht werden kann.
Hier herrscht weiterer Aufklärungsbedarf. Das bloße Anschauen der Filme auf Redtube jedoch ist aus meiner Sicht lediglich das Fertigen einer legalen Privatkopie gem.§ 53 Urhebergesetz. Diese Kopien sind nach § 54a Urhebergesetz erlaubt. Eine Zwischenspeicherung, die Bruchteile von Sekunden dauert,kann keinesfalls als das Anfertigen illegaler Kopien eingestuft werden.
Zudem stellt sich die Frage, was die Firma „The Archive AG“ bezweckt, wenn sie Filme ins Netz stellt und hierbei die Auffassung vertritt, dass das Ansehen dieser Filme eine Verletzung des Urheberrechts darstellt und deshalb abmahnungswürdig ist. Von einem Downloaden kann nicht die Rede sein. Der User kommuniziert lediglich mit dem Server, auf dem das Werk hinterlegt ist, wie Landgericht Köln im Anhang zur Pressemitteilung vom 20.12.2013 ausführt. Auf spitzfindige Weise wird hier der großangelegte Versuch unternommen, mit dem nach wie vor sensiblen Bereich Pornografie enorme Summen zu „verdienen“. Bedauerlich ist hierbei insbesondere, dass sich die Schweizer Firma zur Durchsetzung der vermeintlichen Forderungen der Inanspruchnahme eines Organes der Rechtspflege bedienen kann.
Rechtsanwältin Michaela Tischbein – www.kanzlei-tischbein.de
Zusammenfassend lässt sich sagen
Solange die Abmahner nicht glaubhaft darlegen, wie sie die IP-Adressen erlangt haben, bleibt der Vorwurf des großangelegten Betruges zum Schaden tausender Nutzer im Raum stehen. In dieser Dimension längst eine Sache für das BKA. Denn verfolgen wir die möglichen Wege der IP-Beschaffung so bleibt auch die Frage offen, ob die Ips in dieser Größenordnung nicht bereits bevor der Nutzer auf Redtube landete, mittels der seltsamen Domains abgegriffen wurden? Noch stehen diese Dinge nicht juristisch im Raum. Dennoch bleibt zu hoffen, dass sich alle Beteiligten in entsprechenden Strafverfahren verantworten müssen.
Denn nicht immer ist mit der Scham schnelles Geld zu verdienen.
Und das die Firma „The Archive AG“ mit zweifelhaften Methoden agiert und ihrerseits zusätzlich vermutlich gegen Schweizer Recht verstoßen hat macht die Sache spannender. Der Traum von schnellen Geld ist nun für alle Beteiligten der „Aktion Abmahnwelle“ erstmal gestoppt.
Und für die Betroffenen gilt:
- Ruhe bewahren
- Anwalt einschalten
- In Ansprache mit dem Anwalt Widerspruch einlegen
- Gegebenfalls Strafanzeige erstatten.